Das Gespräch, oder besser gesagt, die Phantastereien finden ein jähes Ende, als Monica anruft, um ihm irgendein wichtiges Telefonat durchzustellen. Diesmal will er Benjamin nicht vor seinem Schreibtisch sitzen haben, wenn er telefoniert. Er hat genug von ihm und macht eine Handbewegung, als wolle er ein lästiges Insekt verjagen.
Der Flughafen von Marseille ist ein chaotischer und hektischer Ort. Taschen und Koffer werden auf lange Laufbänder gestellt, mit bunten Aufklebern und Kürzeln versehen und einmal quer durch automatische Tunnel verfrachtet, um am Ende wieder auf einem Laufband zu landen. Benjamin steht an der Gepäckausgabe und wartet auf seinen eilig gepackten Koffer, der irgendwann aus dem Schlitz am Ende des Bandes kommen müsste. Müsste. Tut er aber nicht, und so findet er sich nach einer halben Stunde bei der Gepäckermittlung wieder. Die Frau hinter dem Schalter, eine dunkelhaarige Französin, die Benjamin versucht klar zu machen, dass er ihr doch bitte die beiden Aufkleber geben soll, die er vor ca. einer Stunde in irgendeinen Mülleimer zwischen dem Gate und dem Gepäcklaufband geworfen hat.
„Voucher, Voucher, Receipt Receipt“ sagt sie immer wieder und dann versucht sie es noch einmal auf Französisch, das die Schulsprachkenntnisse von Benjamin leicht übersteigt. Und als er einfach „Hä?“ sagt, ist die Dame so freundlich und wiederholt die gleichen schnell gesprochenen Sätze in ihrer Muttersprache einfach eine Spur lauter, so als würde Benjamin an Schwerhörigkeit leiden. Schließlich gibt sie es auf und sagt nur noch: „Passeport Monsieur“ und malt dabei ein kleines Viereck in die Luft. Benjamin reicht ihr den Pass und legt mit ganzem Stolz noch seinen kleinen Abriss dazu, der ihm seinen Sitzplatz in der Air France Maschine von Paris nach Marseille ausgewiesen hat. Ein Augenaufschlag der Dame hinter dem Schalter sagt ihm, dass dieser Zettel anscheinend von jetzt an wertlos ist.
„I come from Hamburg“ sagt Benjamin noch, bevor sie sich daran macht die lange Zahl auf seinem Pass in den Computer zu tippen und Benjamin dabei nur einen kurzen, doch leicht belustigten Blick zuwirft. Interessiert beobachtet er, wie sie telefoniert und in einer rasenden Geschwindigkeit Zahlen und Orte aufzählt. Dabei wedelt sie mit seinem Pass durch die Luft.
„Bon“, sagt sie am Schluss nur. „Wo werden Sie wohnen?“
Wenn Benjamin das selbst so genau wüsste. Er sagt „Saigon.“
„Où est-ce?“
„Provence. Saignon, Saigon, sai irgendwas.“
Sie scheint ihn nicht zu verstehen und guckt ihn nun ratlos an.
„Ich brauche Ihren Hotelnamen“, sagt sie plötzlich in passablem Deutsch.
„Sie sprechen Deutsch?“
„Ja, ein bisschen“, und während sie das sagt, guckt sie wie eine der Femmes Fatales in einem französischen Film, in dem die Frauen immer rauchen und sich dabei lasziv ausziehen.
„Ich brauche eine Adresse, wo wir Ihren Koffer hinschicken können“, sagt sie nun wieder in geschäftlicherem Ton.
„Flirtet sie mit mir?“ schießt es ihm durch den Kopf. Sie legt den Kopf schief und lächelt ihn an, während Benjamin in seinem Rucksack wühlt und die E -Mail der Reisestelle hervorkramt. „Auberge du Presbytère, Place de la Fontaine–84400 Saignon. Es ist ein Koffer und eine Gitarre, also es sind zwei Koffer. Die Gitarre ist auch wichtig.“
Zufrieden schaut sie auf die ausgedruckte E Mail, wie jeder Franzose, der einen Ausdruck, ein Formular oder ein amtliches Papier in Händen hält. Gleich macht sie sich daran den Namen des Hotels und des Ortes in den Computer zu tippen. „Wo ist das?“, fragt sie ihn, während sie auf den Bildschirm schaut.
„Keine Ahnung“, antwortet Benjamin.
„D’accord”, jetzt lacht sie wieder. „Aber Sie wollen Ihren Koffer wirklich dahin gebracht bekommen? An diesen Ort, den Sie nicht kennen? Und auch Ihre Gitarre?“
Plötzlich hat Benjamin den Eindruck, die Sache fängt an ihr Spaß zu machen und sie beginnt sich über ihn lustig zu machen. Er liest das kleine Schildchen auf ihrer Bluse. „Madame Bèatrice Beautrix. Ich war noch nie dort. Muss da geschäftlich hin.“ Benjamin macht eine kurze Pause. Sie lächelt. „Businesstrip?“
„Ja, Businesstrip“
„In dieses petit Dorf?“
„Ja, genau“
„Mit Guitarre?“
Ja, mit Gitarre“. Benjamin äfft sie bei dem Wort Guitarre nach.
„D’accord.“ Sie reicht ihm seine Papiere über den Schalter. „Sie sollten sich Marseille einmal anschauen. Es ist eine sehr schöne Stadt und du kannst mit Guitarre mehr machen als in das kleine Dorf.“
Benjamin bedankt sich und lächelt sie so charmant er kann an. Vielleicht denkt sie, er ist ein Popstar. Das wäre doch mal was. „Au revoir, Monsieur.“
„Au revoir, Madame.“
Am Europcar-Schalter geht es schneller. Benjamin reicht seine Membercard über den Counter und nur wenige Minuten später steht er vor einem Renault Megane, der tatsächlich wie angefordert über ein Navigationssystem verfügt. Er gibt die Adresse des Hotels ein, fährt aus der Tiefgarage und bemerkt, dass er für die nächsten zwei Stunden einfach nur der Sonne entgegen fahren muss.
Seit einer halben Stunde hat Benjamin die Autobahn verlassen. Er folgt der N 100 und das, was er inzwischen im Internet über die Provence recherchiert hat, wie malerisch sie sein soll, die Hügel, auf denen der Lavendel blüht, die einsamen Landschaften und all die Schönheit, kann er beim besten Willen nicht entdecken. Rechts und links der Straße ist viel brachliegendes Land und dahinter liegen die Berge der Provence. Na gut, die sehen zwar schön aus, aber es sind letztendlich nur Berge und davon gibt es in Deutschland auch genug und die sind dazu noch grün, während diese hier einfach wie große Steine aussehen. Wie ein einst behaarter Kopf, der nun in die Jahre kommt und immer lichter wird, zeigen die Steine eine Menge kahle Stellen, die dazu auch noch fast weiß sind. Wie ein Greis sehen die aus.
Ein Blick in das Untermenü seines Navigationssystems verrät ihm, dass es sich um ein Gebiet handelt, das man Luberon nennt. „Aha“, sagt Benjamin laut zu sich. „Luberon“ und dabei versucht er das Wort möglichst französisch auszusprechen.
Noch 14 Kilometer, dann muss er die Landstraße verlassen. Die Sonne scheint jetzt durch das Seitenfenster auf der Fahrerseite und kitzelt Benjamins weiße Haut auf den Armen. „Endlich mal ein bisschen Sonne“, denkt Benjamin.
„Folgen sie der Straße für sieben Kilometer”, sagt die weibliche Stimme aus dem Navigationssystem. Benjamin schaltet das Radio an.
Er erkennt Patrick Bruel und dreht den Lautstärkeregler nach rechts. „Qui a le droit“ erklingt. Außer ihm scheint jetzt niemand mehr auf der Straße unterwegs zu sein. Die Natur verändert sich, die gerade grün werdenden Platanen sind verschwunden, die Landschaft wird noch felsiger und der einsetzende Frühling verursacht kleine grüne Explosionen zwischen den Felsen, die man von weitem nicht sehen konnte. Einige weiße Blüten geben der Landschaft etwas malerisches. Für Benjamin sehen sie einsam aus, doch von Einsamkeit hat er seit Jahren genug.
Ein Dorf auf einem Hügel taucht auf. Die Steine gelblich, die Dächer in zartem Rot. Jetzt geht es immer weiter den Berg hinauf. Da Benjamin nun in drei Minuten den Ort „Saignon“ erreicht haben wird, beginnt er sich das Panorama genauer anzuschauen. Es sieht aus, als würde der gesamte Gipfel ausschließlich aus dem Dorf bestehen. Vom Felsen ist kaum noch etwas zu sehen. Die Häuser drängen sich aneinander wie eine Herde verschreckter Tiere. Man kann sich geradezu vorstellen, wie die Ritter damals das Olivenöl heiß machten und es zur Verteidigung den Römern von oben auf den Kopf gegossen haben, wenn sie nahe genug rangekommen sind. „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“
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