Der Neuankömmling war eher klein, sehr schlank – beinahe hager – und sein blondes Haar war an den Schläfen ergraut. Sein Gesicht erinnerte Lila an einen Falken, der seine Beute betrachtet. Besonders die hellblauen Augen hatten etwas Kaltes, während er Lila und Jane genauer beäugte. Ihn begleiteten zwei Frauen und ein Mann, die, ihrem Keuchen nach zu schließen, geradewegs dorthin gerannt waren.
„Was ist hier eigentlich los?“, bellte der hagere Mann in Richtung der Wachmänner, behielt dabei aber die beiden Mädchen im Auge.
„Die Uhr ist weg, Herr Bloom. Wir haben den Alarm ausgelöst“, antwortete der zweite Wachmann knapp. „Und was die Mädchen hier machen? Keine Ahnung!“
Schwerfällig tauchte er unter dem Seil hindurch und packte Lila am Arm. Unzweifelhaft wollte er sie von der Vitrine wegziehen, aber sie schüttelte ihn ab.
„Danke, aber ich kann gut alleine gehen“, fauchte sie.
Sie warf den Kopf in den Nacken und stolzierte mit Jane, die sich mittlerweile sichtlich unwohl fühlte, aus dem abgesperrten Bereich heraus. Ihr patziges Gehabe war allerdings nur Tarnung. Ihre Gedanken waren nach wie vor bei dem grünen Gegenstand, den der Mann namens Bloom heimlich in seiner Tasche verschwinden lassen hatte. Das war höchst verdächtig gewesen!
„Jemand muss die Polizei rufen“, sagte eine der beiden Frauen, die neben Herrn Bloom standen.
„Ach, Emma, natürlich“, seufzte dieser und schlug sich gegen den Kopf. Sein Tonfall hatte sich vollkommen verwandelt und klang jetzt mehr nach zwanglosem Geplauder. „Wo war ich nur mit meinen Gedanken? Lucius, übernimmst du das bitte“, fügte er an den jungen Mann auf seiner anderen Seite gerichtet hinzu.
Er seufzte erneut und trat einen Schritt auf Jane und Lila zu.
„Und was machen wir mit euch? Zwei Mädchen, die sich hinter einer Absperrung aufhalten, als gerade eine äußerst wertvolle Zeituhr gestohlen wurde. Das wirkt, nun ja – merkwürdig. Ihr habt doch nicht etwa etwas damit zu tun, oder?“, fragte er jetzt wieder sehr scharf.
Beide öffneten sofort den Mund, um lauthals gegen diese absurde Unterstellung zu protestieren. Aber bevor sie auch nur einen Ton herausbringen konnten, meldete sich eine heisere Stimme hinter ihnen.
„Mach dich nicht lächerlich, Rasmus. Das sind Kinder.“
Die Stimme gehörte dem Direktor, der hinter ihnen aufgetaucht war. Lila hatte keine Ahnung, wo er die ganze Zeit gesteckt hatte. Aber wenn das überhaupt möglich war, sah er noch angespannter und müder aus als zuvor. Sein Funkgerät, in das er zuvor so lange gesprochen hatte, gab leise Pieptöne von sich.
„Ich habe die Mädchen persönlich mit ihrer Schulklasse durch das Museum geführt. Sie sind erst nachdem wir den Diebstahl bemerkt haben unter dem Seil hindurch geklettert.“ Er machte eine Pause und rieb sich die Augen. „Die Polizei ist mittlerweile informiert. Sie müsste jeden Moment hier sein. Danke, dass ihr den Alarm ausgelöst habt…“
Herrn Bloom schien das alles nicht zu überzeugen. Noch immer blickte er von Zeit zu Zeit mit zusammengekniffenen Augen zu Lila herüber. Sie erwiderte seinen Blick kühl, schließlich hatte sie nichts zu verbergen.
Bevor Herr Bloom weitere Anschuldigungen gegen sie hervorbringen konnte, meldete sich erneut der Direktor zu Wort.
„Ich denke, es ist am besten, wenn wir alle wieder an die Arbeit gehen. Die Polizisten sind unterwegs und werden den Tatort gründlich untersuchen – für uns gibt es hier, denke ich, nichts mehr zu tun. Für die nächsten zwei Stunden bin ich in meinem Büro und möchte nicht gestört werden. Herr Bloom, Sie erklären der Polizei, was passiert ist. Emma, du bringst bitte die Mädchen nach draußen, in Ordnung?“
Als wäre er bereits vom Aussprechen dieser Anweisungen erschöpft, ließ er die Schultern hängen und schlurfte ohne ein weiteres Wort davon.
Die Umstehenden nickten und zerstreuten sich einer nach dem anderen. Sowohl Herr Bloom als auch die beiden Wachmänner warfen Lila und Jane misstrauische Blicke zu, als sie an ihnen vorbei liefen. Emma, die junge Frau, die mit Herrn Bloom am Tatort aufgetaucht war, lächelte sie dagegen an und bedeutete ihnen, voraus zu gehen. Sie trug ein kurzes Blümchenkleid und machte einen sympathischen Eindruck auf Lila – vor allem wegen ihrer Haare, in die sie ein paar blaue Strähnchen gefärbt hatte und die sie zu einer coolen Kurzhaar-Frisur gestylt trug.
„Na dann kommt mal mit, ihr beiden“, sagte sie freundlich. „Ihr wollt bestimmt nach Hause und eure Ruhe haben nach all der Hektik.“
Lila nickte und setzte sich in Bewegung. Sie wollte tatsächlich nach Hause, allerdings nicht, um ihre Ruhe zu haben, sondern um die Ereignisse des Tages haarklein mit Jane zu besprechen. Sonst würde sie noch wichtige Details vergessen! Ein Blick zur Seite zeigte ihr, dass Jane ganz ähnlich dachte.
Also folgten sie Emma durch die Ausstellungsräume zurück nach draußen. Die Museumsmitarbeiterin versuchte halbherzig, ein Gespräch mit ihnen in Gang zu bringen. Das stieß aber auf wenig Gegenliebe. Nach wie vor gingen Lila zu viele Dinge durch den Kopf. Geradezu verzweifelt versuchte sie, sich ein möglichst genaues Bild des Tatorts einzuprägen – Details, Details, Details, rief sie sich in Erinnerung.
Kurz darauf waren sie vor dem Eingang des Museums angekommen. Emma verabschiedete sich freundlich von ihnen und ließ Lila und Jane bei Frau Mayer-Wackel zurück. Die Lehrerin wartete mit dem Rest der Klasse bereits draußen und war sichtlich erleichtert, die Mädchen zu sehen. Die Fahrt zurück zur Schule verlief ereignislos und Lila war heilfroh, als sie endlich nach Hause durften.
„Willst du noch mit zu mir kommen?“, fragte Lila, als sie mit Jane zur Bushaltestelle lief.
Jane strahlte. „Na klar! Ich muss nur meinem Papa Bescheid sagen, dass ich nicht zum Mittagessen komme.“
„Abgemacht!“
„Gibt’s bei euch denn was zu essen?“, fragte Jane. „Ich hab schon richtig Hunger“, fügte sie hinzu und strich sich über den Bauch.
„Bestimmt“, erwiderte Lila zuversichtlich.
Gemeinsam stiegen sie in den Bus und fuhren die wenigen Stationen bis zu dem Viertel am Stadtrand, in dem Lilas Familie wohnte. Während der Fahrt unterhielten sie sich über das Geschehen und glichen miteinander ab, was sie beobachtet hatten.
Lila hatte gute Laune. Der erste Tag an der neuen Schule war doch gar nicht so schlecht gewesen – eigentlich ziemlich aufregend sogar. Jetzt hoffte sie nur noch, dass Papa etwas Vernünftiges gekocht hatte. Sicher war sie sich da nicht…
Die Fahrt durch die Stadt dauerte nicht lange. Schon nach kurzer Zeit sah Lila durch das Fenster die ihr gut bekannten Straßenzüge vorbeihuschen. Bei der Haltestelle „Pinienweg“ stiegen sie aus; das Haus der Winkelbaums war nur eine Querstraße entfernt. Lila hielt es allerdings für angebracht, noch einige Worte über ihre Familie zu verlieren, bevor sie Jane dort einschleppte.
„Bevor wir zu Hause ankommen, muss ich dich noch vor ein paar Sachen warnen. Zum Beispiel vor dem Essen… Papa ist Bibliothekar und liest eine Menge schräger Bücher – auch Kochbücher, wenn du verstehst, was ich meine. Aber meistens kann man es schon essen“, versuchte sie gleich, Jane zu beruhigen.
Jane nickte aber nur verständnisvoll.
„Und lass dich nicht von meinen Geschwistern ärgern. Vor allem nicht von meinem großen Bruder Alex. Er nervt einfach nur wie die Pest und versucht ständig, mich zu ärgern“, führte Lila ihre Erläuterungen fort. „Meine Schwester Eva ist eigentlich ok.“
„Und deine Mutter?“, fragte Jane.
„Arbeitet“, sagte Lila knapp.
Mittlerweile waren sie an der Straßenecke angekommen. Als sie in die ruhige Nebenstraße einbogen, stockte Jane.
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