Wer kannte die Eltern, fragte er sich. Sie waren in Trassenheide ansässig gewesen. Ausgerechnet im Norden der Insel kannte Gerd Thun niemanden, der ihm hätte Auskunft geben können. Doch dann erinnerte er sich, dass Manuel Makowski irgendwann einmal bei Auto-Kruse in Ahlbeck gearbeitet hatte. Er würde den derzeitigen Chef, Kai Kruse, fragen müssen, was sie zu der Zeit vor der Wende an Fahrzeugen angeboten haben. Aber er müsste dabei weit zurückgehen, und es war fraglich, ob es da noch eine Erinnerung an Makowski geben würde.
Am besten wäre es, wenn er seinen Mercedes zur Durchsicht anmelden würde. In diesem Fall pflegte er immer mit Kai Kruse ein paar Worte zu wechseln. Er könnte ihn fragen, ob er möglicherweise noch Kontakt zu Makowski hätte. Darüber hinaus, ob er eine Idee hätte, wie man ihn fragen könne, wann die Beerdigung seiner Tochter stattfände, und ob er bereit wäre, Thun daran teilnehmen zu lassen.
Er machte sich von dem Blick auf die Pferde los und betrat das Haus. Die Reinigungskraft war da gewesen, hatte auch die Geschirrspülmaschine ausgeräumt. Alles sah tipptopp sauber aus. Seit einiger Zeit wohnte Thun allein. Aber er pflegte immer darauf hinzuweisen, dass er zwar allein wohne, aber nie allein lebe. Er nahm sich eine Flasche Jever aus dem Kühlschrank, öffnete sie, nahm ein Glas aus dem Schrank und goss es ein. Genüsslich ließ er das Bier seine Kehle herunterfließen. Dabei beschloss er, sofort telefonisch im Autohaus vorstellig zu werden. Er wählte die Nummer des Autohauses. Eine Frauenstimme meldete sich, und er vereinbarte einen Termin für eine Durchsicht seines Wagens.
»Ich würde gern mit dem Chef sprechen«, sagte er, als er seinen Termin abgesprochen hatte.
»Augenblick bitte, ich frage nach, ob er am Platz ist.«
Es klickte in der Leitung. Kurze Zeit meldete sich die Frau wieder. »Ich verbinde. Ihnen einen guten Tag.«
Wieder knackte es in der Leitung.
»Kai Kruse, guten Morgen, Herr Thun. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich komme in einer sehr privaten Angelegenheit. Interessiere mich für die Zeit um 1980. Was hat die Firma Kruse da verkauft oder repariert?«
»1980 … Also, wir haben in den Achtzigern Wolga und Moskwitsch repariert«, sagte Kai Kruse.
»Können Sie mir sagen, wie lange es die Firma überhaupt gibt? Ich war damals eine Zeit lang weg von der Insel, sodass ich den Überblick über einige Leute verloren habe, die ich kenne.«
»Mein Vater hat 1962 begonnen. Damals wurde vom F6 über Wartburg, Moskwitsch und Wolga alles repariert, was auf der Insel fuhr. Es war eine wilde Zeit. Da gibt es ganz sicher viel zu berichten. Gern bringe ich Sie und meinen Vater in dieser Angelegenheit mal zusammen. Wenn Sie Ihr Fahrzeug morgen zur Durchsicht bringen, können Sie gern zu mir kommen, ich werde versuchen, zu sehen, ob es da etwas Interessantes für Sie zu berichten gibt.«
Thun bedankte sich und legte nachdenklich den Hörer auf die Gabel.
Die Nachrichten, die Gerd Thun über Kai Kruse erfuhr, waren nicht eben förderlich. Zwar erinnerte man sich, dass einmal ein sehr guter Karosserieklempner irgendwann in den sechziger Jahren in der Firma Kruse gearbeitet hatte, er war aber nach einiger Zeit wieder aus der Firma ausgetreten, um Usedom zu verlassen. Eine Verbindung zu diesem Mann gab es schon lange nicht mehr.
Dennoch gab es einen Lichtblick. Kai Kruse bot ihm an, den mit ihm befreundeten Kriminalhauptkommissar Larsson aus Heringsdorf zu fragen, ob er Thun einen Rat geben könne.
Dieses Angebot hatte Thun angenommen.
*
Sie trafen sich am Freitag, im Café Knatter in Ückeritz. Larsson hat es so eingerichtet, dass der Treffpunkt auf seinem Heimweg lag. Gerd Thun wiederum war sehr froh darüber, dass Larsson dem Treffen zugestimmt hatte. Zu dieser Jahreszeit war allerdings reichlich Betrieb.
Gerd Thun sah Larsson an einem Vierertisch sitzen. Zwei der Plätze waren besetzt. Er steuerte auf ihn zu.
»Herr Larsson?«
Larsson hatte einen Augenblick den Zugang zum Außenbereich aus den Augen gelassen und über das Achterwasser geschaut. Immer wieder war er beeindruckt, wie sich das Licht über dem Wasser veränderte. Im Augenblick standen einige Kumulus-Wölkchen über dem Wasser, was darauf hindeutete, dass der Wind wohl zunehmen würde. Das aber wäre für die Leute, die gerade bei dem Besitzer des Cafés Knatter Unterricht im Surfen nahmen, vielleicht eine Brise zu viel.
Larsson war aufgestanden und gab Thun die Hand. Weil er wusste, wie er aussah, wenn er gerade in Gedanken versunken war, machte er schnell ein freundliches Gesicht. »Herr Thun? Herr Kruse hat mir von Ihren Problemen erzählt.« Er deutete auf den leeren Stuhl, und Thun setzte sich.
»Es sind in der Tat Probleme. Und ich werde sie allein nicht lösen können.«
Larsson beobachtete aufmerksam seine Umgebung. Doch alle schienen so in ihre Gespräche vertieft, dass sie nicht auf die beiden Männer achteten. Auch das ältere Ehepaar, das an ihrem Tisch saß, hatte mit sich zu tun.
»Was ist der Hinderungsgrund, dass Sie mich sprechen wollen?«
»Der Mann, der das Mädchen als Vater aufgezogen hat, hasst mich«, sagte Larsson.
»Das ist, nach allem, was ich gehört habe, eine menschliche Regung.«
»Ich hoffte, dass angesichts des Todes ihres Kindes die Eltern milde gestimmt sind und eine Versöhnung möglich wäre. Aber ich habe mich wohl getäuscht.«
»Es wäre besser, Sie fänden jemanden, der die Makowskis kennt«, sagte Larsson.
»Das ist die Krux. Ich kenne keinen. Die Familie hat, so viel ist mir noch in Erinnerung, noch während der Schwangerschaft Rosa Makowskis Usedom verlassen und ist ganz in den Norden von Rügen gezogen.«
Sie schwiegen eine Weile, ihr Blick ging hinaus auf das Wasser. Am Rande des Steges versuchte wieder einer der Neulinge, auf ein Surfbrett zu kommen, ohne herunterzufallen. Und tatsächlich schien es zu gelingen. In Ückeritz, direkt vor dem Café Knatter unmittelbar am Achterwasser, ist ein riesiges Stehrevier. Bei Windrichtung von Nordwest über Süd bis Südost ist alles gut. Wenn jemand aufs Wasser geht, dann dort. Außerdem kann man nach dem Kiten, sofern man noch dazu imstande ist, gleich eine heiße Schokolade trinken.
»Wäre es hier auf der Insel, wäre es für mich eine Kleinigkeit, dort einmal vorstellig zu werden. Aber so?«, sagte Larsson.
»Vielleicht würden Sie einen Ausflug mit Ihrer Familie nach Rügen machen und bei den Makowskis, sozusagen als Bekannter von mir, ein Sondierungsgespräch führen.«
»Wie stellen Sie sich das vor? Soll ich dort klingeln und sagen: Mein Name ist Larsson, ich komme im Auftrag von Herrn Thun? So einfach ist es nicht.«
»Was die Kosten betrifft, wäre das kein Problem. Die übernehme ich selbstverständlich.«
Larsson sah Thun belustigt an. »Ich hoffe nicht, dass das ein Bestechungsversuch war. Sie würden mich damit in Teufels Küche bringen. Und das käme für mich überhaupt nicht infrage. Wenn ich es überhaupt machen sollte, dann aus Freundschaft zu Kai Kruse.«
Die Serviererin kam.
»Darf ich Ihnen etwas bringen?«
Larsson schüttelte den Kopf.
Thun bestellte einen Kaffee und ein Stück gedeckte Apfeltorte mit Sahne.
»Sie wissen, wo die Familie wohnt?«, fragte Larsson.
»In Lohme-Hagen. Stubbenkammerstraße. In der Nummer 33 ist die Hotelpension Nordfeuer. Dort ist man sehr gut untergebracht.«
»Das wissen Sie so genau?«
»Ich hatte mich dort mal eingemietet, um das Haus zu beobachten. Ich dachte, es fände sich eine Möglichkeit, Kontakt aufzunehmen. Doch das hat sich nicht so ergeben.«
»Beobachten?« Larsson lächelte.
»Das Haus liegt schräg gegenüber vom Nordfeuer. Daneben ist ein Kasten aus der DDR-Zeit, den man mit Platten erstellt hatte. In den Siebzigerjahren war das sicher eine gute Sache. Zentralheizung war zu dieser Zeit ja die Ausnahme. In Wirklichkeit aber ist es ein hässliches Stück Beton, das man direkt zwischen einem Neubau und einem Haus, das aus den Anfängen der DDR-Zeit herrührt, einfach hingestellt hat. Und das ohne genügend Abstand.«
Читать дальше