Im Laufe der nächsten Tage und Wochen lernten die sechs Neuen auch alle anderen Lehrer kennen. Auf den ersten Blick besonders beliebt waren Constanze Frey, die Sport- und Naturwissenschaften lehrte und Alice Wilson, die Lehrerin für Englisch, Französisch und Geschichte. Hinzu kamen noch eine Reihe Fachlehrer für Informatik, Wirtschaft, Sozialkunde Kunst, Hauswirtschaft, Werken und Technik sowie für weitere Sprachen wie Spanisch und Latein. Die Tage waren zwar sehr ausgefüllt, aber irgendwie kam es den neuen Schülern vor, als ob das Lernen hier einfacher war als zu Hause. Von den Lehrkräften wurden sie wie Partner behandelt, mit denen zusammen definierte Aufgaben zu erledigen waren von den einen als Lehrende und von den anderen als Lernende. Um die anfallenden Projekte erfolgreich zu bewältigen, war diese Gemeinschaft von Lehrern und Schülern zusammen mit den Paten täglich immer wieder aufs Neue gefordert, ihr Bestes zu geben.
Wie besprochen, trafen sich Leyla und Gino jeden Abend. Das Mädchen hatte ziemlich schnell gelernt mit dem Computer umzugehen und die Lernprogramme einfach so anzusehen, als wenn sie in einem Buch stehen würden. Schnell verstand sie die Vorteile des Rechners bei der Bewältigung ihrer Aufgaben zu nutzen. Speicherung von Texten, Abfragen im Internet, moderne Kommunikation in den sozialen Netzwerken und natürlich auch Spiele zur Entspannung gingen ihr immer leichter von der Hand. Sie war so froh, in Gino einen „Lehrer“ gefunden zu haben, der ihr auf seine ruhige, ausgeglichene Art alles Nötige beibrachte oder vertiefte. Auch Marlene, ihre Patin und Mitbewohnerin half ihr sehr, sobald sie gebraucht wurde.
Inzwischen hatte Leyla sich Gino anvertraut, dass sie aus einer Sinti-Familie stammt und gar kein festes Zuhause hatte. Ihre Eltern gehören sozusagen zum „Fahrenden Volk“, wie es landläufig bezeichnet wird „zu Zigeunern“ wie sie traurig sagte. Sie haben noch nicht einmal eine Staatsangehörigkeit und ihr Aufenthalt wurde von den deutschen Behörden immer nur befristet geduldet, die Genehmigungen auch nur wegen der historischen Verpflichtung immer wieder verlängert. Sie wurde als einziges Mädchen von ihrer Großfamilie ausgewählt, Abitur zu machen, um später studieren zu können. Sie möchte entweder Juristin werden oder in die Politik gehen. In beiden Berufen sieht sie nämlich gute Möglichkeiten, etwas für Menschen ihrer Herkunft zu bewirken. Alle Verwandten legen monatlich Geld zusammen, um Leyla den Besuch dieses teuren Internats zu ermöglichen. Gino konnte nur staunen über diese Einblicke in eine ihm fremde Welt, von der er in seinem bisherigen Leben in einer wohlhabenden Schweizer Familie kaum etwas wahrgenommen hatte.
Eines Tages fragte er sie: „Hast du Lust am Wochenende mitzukommen und meinen Opa zu besuchen, ich denke, er würde sich freuen.“ „Wenn du willst komme ich natürlich gerne mit, aber glaubst du denn, ich bin auch willkommen?“ „Warum denn nicht, schließlich bist du meine beste Freundin. Er ist total gut drauf, weißt du, der ist auch irgendwie anders als die anderen.“ „Ältere Leute haben aber oft Probleme mit uns.“ „Wie meinst du das?“ „Naja von wegen Zigeuner und so, die Vorurteile eben. „Mein Opa hat die nicht, das garantier‘ ich dir!“ Gino nahm das Handy und rief seinen Großvater gleich an, um ihm zu sagen, dass er und seine Freundin am Sonntag zu Besuch kommen würden, wenn es passt. „Ihr könnt gerne kommen, ich erwarte euch zum Mittagessen.“ Trotz des kurzen Gesprächs hatte der Junge das sichere Gefühl, dass der alte Mann sich auf den Besuch freute. „Und der kocht, du wirst staunen, allerdings gibt es kein Fleisch bei ihm, soviel ich weiß. Aber was Opa bisher auch immer zubereitet hatte, es schmeckte alles köstlich!“
Kaum hatte er ausgesprochen, rief seine Mutter an. „Gino, wie ist es, wie geht es dir? Ich möchte dich am Sonntag besuchen.“ „Du, das geht nicht, ich bin verabredet, wir gehen zu Opa.“ „Wir?“ „Ja meine Freundin Leyla und ich, Opa freut sich und will für uns mittags etwas kochen.“ „Ach schade, das passt mir jetzt nicht so, ehm – ich meine mit Opa und so. Aber gut, ich verschiebe meinen Besuch auf ein anderes Wochenende. Da du dich nicht bei mir meldest, scheint es dir ja ziemlich gut zu gehen, oder?“ Gino berichtete seiner Mutter von den Unterrichten und dass hier alles prima läuft. Im Herbst bekommt er auch einen kleinen Kartoffelacker, wo er seine ‚Gokno‘ anbauen darf.
Am Ende des Gesprächs schaute Leyla ihn mit großen Augen entgeistert an, als sie fragte: „Du sagst deiner Mutter einfach ab, das geht?“ „Ja, wieso denn nicht, wir beidewaren doch schon verabredet.“ „Du hast deine Mutter gar nicht gefragt, wie es ihr geht.“ „Ja das stimmt, denn innerlich bin ich noch ein wenig sauer auf sie und meinen Vater. Obwohl, ich sollte es als Glücksfall betrachten, dass sie mich hierher geschickt haben.“ „Wieso das denn jetzt auf einmal?“ „Weil es mir hier immer besser gefällt – und …“ „Und?“ „Und - weil ich dich sonst wahrscheinlich nie und nimmer kennengelernt hätte.“ Leyla lächelte verlegen, aber glücklich und küsste ihren Freund zärtlich auf eine Wange, während er seine Arme um sie legte und sie fest an sich drückte.
Einladung mit Hindernissen
An dem besagten Sonntag machten sich die beiden jungen Leute auf den Weg zu Großvaters Haus. Sie gingen die Uferpromenade entlang, da wo die Restaurants und kleinen Boutiquen sind. Ein Student war gerade dabei, eine Portraitzeichnung von einer Touristin anzufertigen. Dort blieben sie kurz stehen und sahen zu, wie der junge Künstler mit Kohlestiften das Gesicht der Frau auf einem Papierbogen sehr treffend nachzeichnete.
„Auch eine Möglichkeit Geld zu verdienen, was?“ Die beiden fuhren herum, denn natürlich erkannten sie die Stimme des hochnäsigen Carlo. Der stand vor einer kleinen Gruppe anderer Schüler aus seiner Klasse. „Und Geld kannst du doch bestimmt gut gebrauchen Leyla, oder?“ Gino trat dicht an den Provokateur heran. „Und was soll das jetzt heißen, Carlo?“ Der weitaus größere und kräftigere Schüler lächelte jedoch arrogant über Ginos Kopf hinweg und fixierte nur Leyla. „Wenn es jedoch zum Zeichnen nicht reichen sollte, dann mach doch einfach das, mit dem ihr Zigeuner immer euer Geld verdient habt, mit ‚Aus der Hand lesen‘ oder ‚Wahrsagen‘ zum Beispiel!“ Gino konnte sich nicht mehr beherrschen, als das Wort Zigeuner fiel. Er hatte er plötzlich einen roten Film vor Augen und schlug ohne zu überlegen zu. Carlo hatte wohl damit gerechnet, denn er drehte seinen Kopf so geschickt zur Seite, dass Ginos Faust nur noch ganz leicht seinen Hals streifte.
„Wegen so was kannst du rausfliegen, Kleiner, das weißt du doch.“ „Das wollen wir doch einmal sehen, wer hier zuerst fliegt, ich wette, du bist es!“ Gino war außer sich vor Wut. Zum Glück machte Leyla einen Schritt auf die beiden Streithähne zu und zerrte Gino an seinem Shirt zurück. „Komm, er ist es nicht wert.“ „Hey, Fräulein Zigeunerin – ganz cool was?“ Carlo blickte höhnisch auf das Mädchen hinab. Die machte einen Schritt nach vorne, stellte sich breitbeinig vor ihn hin und hob ihre Hand. Dicht vor seinem Gesicht drohte sie ihm mit geballter Faust und sah ihn zornig an. Ihre schwarzen Augen funkelten bedrohlich. „Ich warne dich, treib es nicht zu weit. Wenn meine Geduld zu Ende ist, Junge, wird es dir sehr, sehr schlecht ergehen. Dann wirst du dir wünschen, du hättest mich nie getroffen!“ Abrupt drehte sie sich um, fasste Gino am Arm und zog ihn weg von der Gruppe. Carlo wandte sich indessen nicht mehr ganz so großmäulig – ja, sogar etwas eingeschüchtert von dem resoluten Auftreten von Leyla – an seine Mitschüler: „Habt ihr das gehört, dieses Mädchen droht mir!“ Einige der jungen Leute blickten aber betreten zu Boden und die anderen waren auch nicht gerade erfreut über diesen unschönen Zwischenfall. Da merkte Carlo, dass er zu weit gegangen war. „Ich wollte doch nur einen Spaß machen, kommt Leute, ich gebe ein Eis aus. Und euch beiden wünsche ich auch noch einen schönen Tag, ich bin wirklich kein Unmensch, seid doch bloß nicht so sensibel!“, rief er den beiden hinterher.
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