Er hatte die ganze Nacht an das gedacht, was jetzt auf ihn zukommen würde. Sein neues Leben würde ja bereits in wenigen Tagen beginnen, denn die Ferien in Deutschland waren bald zu Ende. Im Internet hatte er sich bereits über die Schule informiert. Dort müsste er mit einem anderen Jungen zusammen in einem Zimmer wohnen, auch das noch! Nun ja, manchmal hatte sich Gino schon einen Bruder oder eine Schwester gewünscht, denn zu oft kam es ihm vor, als ob seine Mutter allzu sehr auf ihn fixiert war. Ansonsten hört sich die Beschreibung des Internats wirklich nicht schlecht an. Das Essen wird allgemein gelobt. Bio-Küche mit teilweiser Versorgung aus eigenen Gemüsegärten! Nur ungefähr 50 Schüler gibt es dort, Jungen und Mädchen ab der 9. Klasse. Etwa 10 Lehrer unterrichten und mindestens einer von denen wohnt sogar selbst in der Schule. Die Rektorin heißt Dr. Iris Kern. Also langweilig würde ihm bestimmt nicht werden, da ist er sich ziemlich sicher, denn es gibt tatsächlich viele interessante Sport- und Arbeitsgruppen. Richtig toll fand es Gino, dass man sogar mitgärtnern kann.
Einige seiner Mitschüler von hier hatten ja früher auch schon auf Internate gewechselt, das waren aber oft schwierige Typen, mit wirklich schlechten Zensuren und Störenfriede. Bei ihm ging es ja nur darum, dass seine Eltern keine Zeit mehr für ihn haben! Gut, der beste Schüler war er nicht, aber im mittelgut zu sein, hat ihm ja auch stets genügt. So, aber jetzt will er stark sein, nahm er sich fest vor. Seine Eltern sollen sich über ihn wundern, er schultert das! Und übrigens Zuhause, was bedeutet das schon? Sein Vater ist Italiener, seine Mutter ist Deutsche und er lebt in der Schweiz. Also was oder wo ist sein Zuhause? Gino wird es selbst herausfinden müssen und den schönen Bodensee gibt schließlich auch am anderen Ufer in Meersburg.
Die nächsten Tage nutzte er, um die wichtigsten Sachen zusammen zu suchen, die er für seine neue Schule brauchen wird, und um sich von seinen Freunden zu verabschieden. Natürlich fiel es Gino nicht leicht, seiner vertrauten Umgebung und den anderen Jungs ade zu sagen. Tröstlich für ihn war aber das Gefühl, dass einige von denen ihn sogar darum beneideten, dass er aus dem kleinen Schweizer Ort herauskommt. Zumal am anderen Ufer und weit weg von den Eltern, bestimmt auch manch neue Freiheit winkt. So kann man es natürlich auch sehen und er fühlte sich seinen Freunden gegenüber gleich sehr viel erwachsener. Man traut ihm also was zu, toll!
Am Tag der Abreise gab ihm seine Mutter einen Briefumschlag. „Hier ist Geld drin und eine Bankkarte. Die Geheimnummer ist vierstellig und besteht aus dem Tag und dem Monat von Papas Geburtstag. Du kannst damit an den Geldautomaten in Deutschland und in der Schweiz Bargeld abheben. Pass gut darauf auf! Und pass vor allem gut auf dich auf. Papa und ich lieben dich Gino, denk bitte trotz allem daran.“
Sie fuhren mit dem Auto nach Konstanz und die Mutter half ihm noch dabei, sein Gepäck auf das Schiff zu bringen. “Dein Opa holt dich drüben ab und bringt dich nach oben in die neue Schule.“ Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie das hässliche Wort ‚ Internat ‘ nicht aussprechen wollte. Nach einer kurzen Umarmung, bei der er sich unwillkürlich verkrampfte, ging sie zurück an Land und winkte dem Schiff hinterher, als es abgelegt und Fahrt aufgenommen hatte. Gino stand an der Reling und schaute zurück. Wenigstens etwas traurig kam ihm seine Mutter ja vor. Wieder stiegen Tränen in ihm auf und es bildete sich ein Kloß in seinem Hals. Er wollte nicht winken, nur hier stehen.
Nach einer Weile ging er hinüber zum Vorschiff. Dort lag seine Zukunft also vor ihm. Die Kulisse von Meersburg war ihm ja seit langem vertraut. Links oben der Turm der alten Burg, zum Teil ist sie ja eine Ruine, rechts davon das neue Schloss und daneben das große „Droste-Hülshoff-Gymnasium“. Unten am Wasser schlängelt sich die Uferpromenade mit den vielen kleinen Geschäften und Gasstätten, das Eiscafé. Sein Opa ist der Vater seiner Mutter. Einige Male schon durfte Gino alleine hinüberfahren um ihn zu besuchen. Er ist ein bisschen knorrig, aber eigentlich ganz o.k. Die Oma ist schon so lange tot, dass der Junge sich nicht mehr so recht an sie erinnern konnte. Der alte Mann lebt alleine in einem kleinen Haus am Ortsrand von Meersburg.
Als das weiße Schiff dem Hafen langsam näher kam, konnte Gino ihn schon von weitem erkennen, denn er ist ein großer Mann mit einer sehr aufrechten Körperhaltung. Nachdem das Schiff festgemacht hatte, rumpelte der Junge mit seinen beiden Rollkoffern die Aluminiumrampe hinunter auf den Anleger. Der Großvater drückte ihn kurz an sich und wuselte ihm mit einer Hand über das Haar. Gino nahm den ihm vertrauten Geruch eines Pfeifentabaks wahr. Wieder wollten in ihm Tränen aufsteigen, aber er biss sich tapfer auf die Lippen. Sein Opa nahm sich einen der Koffer und sagte nur „Na, komm.“ Er ging voran, um gleich darauf wieder bei einem freien Tisch vor dem italienischen Eiscafé anzuhalten. „Wir setzen uns hier erst einmal in aller Ruhe hin.“ Sie bestellten sich ein gemischtes Eis und einen Eiskaffee. Der alte Mann war kein Freund von vielen Worten und kam meist schnell auf den Punkt. So auch jetzt, nachdem er an seinem Getränk genippt hatte.
„Sonja hat mich erst vor kurzem informiert, dass du herkommst. Zunächst war es auch für mich eine Überraschung, aber nach einigem Nachdenken fand ich die Idee gar nicht so übel.“ Gino sah in die ehrlichen blauen Augen des alten Mannes und nickte. Er war froh, dass wenigstens sein Opa jetzt hier bei ihm war. Seine Gegenwart hatte auf ihn schon früher immer sehr beruhigend gewirkt. Der Vater seiner Mutter hatte ihm immer das Gefühl gegeben, dass er den Jungen genauso ernst nimmt, als wäre er ein Erwachsener.
„Sie hatten noch an ein Internat in Lausanne und an eines in Italien gedacht“, fuhr der alte Herr ruhig fort, „sich aber dann für dieses hier am Schlossberg entschieden. Dein Vater kennt die Rektorin und vielleicht spielt es ja auch eine kleine Rolle, dass ich hier wohne.“ Er konnte sich natürlich vorstellen, warum sein Schwiegersohn die Schulleiterin kennt, denn es ist ihm wohl bekannt, dass der es mit der ehelichen Treue nicht so genau nimmt, aber seine Tochter hatte sich scheinbar irgendwie mit den sonderbaren Gegebenheiten ihrer Ehe arrangiert.
Der Junge nickte wieder und rührte in seinem Eisbecher herum, dessen Inhalt sich langsam zu verflüssigen begann. „Pass auf, das wird schon“, hörte er noch, dann war Schweigen. Wie immer an den Sommertagen herrschte ein reges Treiben hier im Hafengebiet, besonders wenn die Ausflugsschiffe an- oder ablegten. „Woll’n wir?“, fragte der Großvater, nachdem der Eisbecher leer und auch der Kaffee ausgetrunken war. Gino nickte langsam, atmete tief durch und dann standen die beiden auf.
Sie gingen bis zum Parkplatz und luden das Gepäck in einen alten Geländewagen. Gino hat es immer toll gefunden, dass sein Opa so ein uriges Auto fuhr – nämlich einen betagten dunkelgrünen Land Rover – einen Direktimport aus England, der sogar Lenkrad auf der rechten Seite hatte. Den kaufte er einem englischen Soldaten ab, als der in seine Heimat zurückbeordert wurde. Und das war lange bevor solche Wagen hier allgemein als chic galten. Sie fuhren die kurze Strecke hinauf zum Schlossberg. Dort befand sich das Internat in unmittelbarer Nachbarschaft des anderen großen Gymnasiums oberhalb der Ufermauer. Im Garten des Gebäudes hantierte ein Mann in einer grünen Latzhose mit einer großen Harke. Er hatte ein kariertes Hemd an und auf dem Kopf trug er einen mächtigen Strohhut. Als der Jugendliche und der Ältere aus dem Wagen stiegen und das Gepäck ausluden, kam er auf sie zu und streckte ihnen zur Begrüßung seine Hand entgegen. „Willkommen, ich bin Michael und hier der Hausmeister“, sagte er freundlich. Der Großvater nickte und legte seine Hand auf Ginos Kopf. „Das ist mein Enkel Gino Bertani, er zieht heute hier ein und ich bin Clemens Berger.“ „Sie kommen mir irgendwie bekannt vor.“ Der Gärtner musterte die Ankömmlinge aufmerksam. „Ja, sie mir auch, ist ja kein Wunder, denn ich wohne hier im Ort“, murmelte der Großvater. „Genau – deshalb – ah ja. Ich hole gleich mal den Felix.“ Fragend schauten die beiden Besucher ihn an. „Ach so ja, also Felix ist der Zimmerkollege von dir.“ Michael nahm die beiden Koffer in seine großen Hände, ganz so, als ob sie nichts wiegen würden und trug sie in das Gebäude.
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