Sie blinzelte versonnen. Von ihrem Platz aus konnte sie weit über die Landschaft blicken. Gleich nach der Finca stieg das Gelände an. Die ersten Ausläufer des Roque Nueblo nahmen hier ihren Anfang. Es müsste herrlich sein, diese faszinierende Gegend aus kargem Felsgebilden und schon fast wüstenartiger Vegetation zu erkunden. Doch Claire hatte sicher nicht vor, einfach nur zu Fuß los zu wandern. Ihr stand der Sinn nach ganz anderer Fortbewegung. Gleich morgen würde sie sich um ein Pferd kümmern. Und dabei überschätzte sie sich sicher nicht. Claire war eine hervorragende Reiterin. Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren ritt sie regelmäßig, hatte viele unterschiedliche Turniere in ihrer Jugend gewonnen bis sie schließlich entdeckte, was für sie den eigentlichen Reiz des Reitens ausmachte - nicht auf einem Reitplatz im Kreis herumzureiten! Claire sehnte sich danach, wieder auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen und als eine Einheit zusammen über die Erde zu fliegen, den Wind in den Haaren zu spüren, den Wind als Zeichen grenzenloser Freiheit.
Sie hatte ihre Freiheit und ihre Unabhängigkeit geliebt, bis die Krankheit ihres Vaters dazwischenkam. Nicht, dass sie darüber klagen wollte, sie hatte ihren Vater gerne gepflegt mit der ganzen Aufopferung einer liebenden Tochter - auch wenn es manchmal ziemlich an ihre Grenzen ging.
Aber nun war sie wieder an der Reihe! Jetzt wollte Claire wieder Claire sein dürfen und leben! Leben, wie sie es wollte. Das nicht gerade geringe Erbe ihres Vaters ermöglichte ihr nun vieles, das ihren Lebensstil durchaus noch angenehmer machte. Sicherlich, Claire war eine erfolgreiche Romanautorin, die schon lange nicht mehr auf Papas Geld angewiesen war, aber warum sollte man nicht etwas nutzen, wenn man es schon hatte.
Darum dieses Jahr Auszeit auf dieser herrlichen Finca mit allem Drum und Dran. Und Claire sog jeden Augenblick in sich auf, wie die Luft, die man zum Atmen brauchte.
Langsam aber unaufhaltsam kroch die Dunkelheit über den Horizont. Dem Cappuccino folgte ein leckeres Abendessen mit heimischem Ziegenkäse, knusprigem, frischen Brot, Oliven und ein paar Gläsern trockenen Rotweins. Claire saß bei Kerzenschein immer noch auf der gemütlichen Sandsteinterrasse. Gedankenversunken lauschte sie den Geräuschen der Nacht. Tausende Zikaden hatten zum Konzert angestimmt. Irgendwo in der Ferne hörte man ein Käuzchen und ein paar Hunde heulten schaurig schön, aber auch unheimlich in den strahlenden Mond. Ab und zu raschelte es im Gebüsch, sicher ein kleines Raubtier auf seinem nächtlichen Streifzug.
Claire war kein ängstlicher Mensch. Schon alleine die Tatsache, dass sie sich alleine auf einer einsamen Finca befand, zeugte von ihrem Mut. Doch ein seltsames Gefühl überkam die junge Frau plötzlich. Wieder kamen ihr die wilden Hunde in den Sinn und intuitiv lenkte sie ihren Blick auf eine Stelle im Garten, wo sie in der Schwärze der Nacht eine Gruppe Sträucher vermutete. Es schien, als würde sie beobachtet werden. Auch wenn sie nichts ausmachen konnte, so spürte sie doch ganz deutlich neugierige Blicke auf ihrem ganzen Körper.
»Hallo! Ist da jemand?« Claires Stimme verhallte in der Dunkelheit. Doch es folgte keine Antwort. Lauerte da jemand im Gebüsch. Marks Worte kamen ihr wieder in den Sinn. »Du wirst Freiwild für jedes männliche Wesen sein!«
»Alles Quatsch,« sagte Claire laut zu sich selbst, »das sind bestimmt nur irgendwelche Igel, die ihr Liebesleben in meinem Garten austoben.«
Aber im Hinterkopf grübelte sie insgeheim, ob es überhaupt Igel auf Gran Canaria gab. Letztendlich gab sie ihrem mulmigen Gefühl nach, und beschloss den Tag zu beenden und zu Bett zu gehen.
Sie räumte schnell noch das Geschirr in die Küche und verschloss sorgfältig alle Fenster und Türen, bevor sie sich zur Ruhe begab.
***
Kapitel 3
Am nächsten Morgen wurde Claire durch ein lautes Gepolter, gefolgt von unzähligen spanischen Flüchen, geweckt. Eilig stand sie auf, schlüpfte in T-Shirt und Shorts und rannte zur Galerie. Über das schmiedeeiserne Geländer konnte sie das ganze Wohnzimmer überblicken. Eine kleine dralle Frau, etwa in den Fünfzigern, werkelte mit Besen und Schaufel neben einem zerbrochenen Blumentopf vor dem Fenster. Sie war mit einem geblümten Sommerkleid und einer Schürze bekleidet, ihre schwarzen Haare, an den Ansätzen schon leicht ergraut, waren zu einem Dutt hochgesteckt. Das musste Rosa sein, die Putzhilfe. Schmunzelnd vernahm Claire Rosas temperamentvolle Schimpftirade. Um sich bemerkbar zu machen, räusperte sie sich leicht: »Guten Morgen!«
Ruckartig schnellte die Hausangestellte in die Höhe und drehte sich um. Ihr erschrockener Blick ging nach oben. Als sie Claires freundliche Miene sah, erhellte sich ihr Gesichtsausdruck jedoch sofort.
»Oh, guten Morgen Señora! Entschuldigen sie bitte vielmals! Ich wollte sie nicht aufwecken! Mir ist nur der Blumentopf umgefallen und zerbrochen ... ich werde ihn selbstverständlich bezahlen…!« Noch bevor Claire etwas erwidern konnte, setzte Rosa ihren Redeschwall fort.
»Ich bin übrigens Rosa! Señora, haben Sie gut geschlafen? Ich habe Ihnen schon Frühstück gemacht! Möchten Sie lieber Tee oder Kaffee? Frische Brötchen habe ich auch schon besorgt!« Mit einem Strahlen im Gesicht und Stolz über ihren Arbeitseifer grinste sie Claire nun an.
Claire war inzwischen die Treppe hinuntergegangen, erwiderte das freundliche Lächeln ihres Gegenübers und stellte sich vor: »Claire Bennett! Guten Morgen!« Und schließlich fügte sie noch hinzu: »Danke, ich nehme lieber Kaffee!«
Nach einem ausgiebigen Frühstück beschloss Claire einen Ausflug zu dem, von Louisa Cortez empfohlenem Gestüt zu machen. Sie tauschte die Shorts mit einer dunkelgrauen, enganliegenden Reithose mit Wildlederbesatz, die ihre weibliche Figur besonders gut unterstrich. Dazu suchte sie eine blütenweiße kurzärmelige Bluse, sowie eine ärmellose schwarze Wildlederweste.
Während sie in ihre schwarzen Reitstiefel schlüpfte, warf sie noch einen letzten Blick in den großen Spiegel, um ihr Erscheinungsbild zu überprüfen. Mit dem Ergebnis war sie durchaus zufrieden - schnell noch ein farbloses Lipgloss aufgetragen und fertig!
Leise schnurrte der schwere Jeep über die Serpentinen der Bergstraße. Claire war mit dem neuen Wagen sehr zufrieden. Louisa Cortez hatte eine gute Wahl getroffen.
Mit mäßigem Tempo fuhr Claire durch die wundervolle, aber auch bizarre Bergwelt der Insel. Sie wollte möglichst viele Eindrücke in sich aufsaugen. Der Ballast der Vergangenheit fiel von ihr ab und sie spürte, wie ihr altes Leben, ihre Lust nach Freiheit und Abenteuer, wieder zurückkam.
Sie sah das gelbe Absperrband schon von weitem im Wind flattern. Magisch wurde sie von der Stelle angezogen. Sie stoppte den Wagen in einer kleinen Nische und stieg aus. Langsam schritt sie zum Abgrund, den die junge Frau mit ihrem kleinen Sohn hinunter gestürzt war. Das Wrack lag noch immer dort. Es mutete gespenstisch an, wie die Reifen sich nach oben reckten, als ob sie nach Hilfe suchen würden. Claire schauderte. Aber ihr kriminalistischer Spürsinn ließ sie dennoch neugieriger werden. Sie suchte nach einer Stelle, an der sie den Abhang hinunterklettern könnte. Aber die scharf gezackten Felsen gaben keinen Weg frei. Wenn überhaupt würde man nur durch den Canyon zu der Unfallstelle kommen. Enttäuscht wandte sich Claire ab und ging zu ihrem Wagen zurück. Dabei nahm sie sich fest vor, das zurückgelassene Wrack näher anzusehen. Eine innere Stimme zwang sie dazu, sie konnte nicht anders. Die Geschichte ließ sie nicht mehr los.
Und wieder war es ihr, als würde sie beobachtet. Deutlich spürte sie die Blicke in ihrem Rücken. Doch als sie sich umsah, konnte sie nichts ausmachen. Unbehaglich setzte sie sich schnell ins Auto und schloss die Tür hinter sich.
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