»Hallo Du! Du musst keine Angst mehr haben! Wir sind gekommen, um Euch zu befreien!«
Die junge Frau flüsterte fast und die Hündin trat noch einen Schritt näher.
»Komm mit! Wir gehen jetzt in die Freiheit«, hörte sie die Menschenfrau sagen und mühsam setzte sich die Galgomutter in Bewegung, ihre Kinder immer im Schlepptau. Ohne sich noch einmal umzusehen, folgte sie den Menschen, ungeachtet der Schmerzen in ihren Gliedern nahm sie ihre ganze Kraft noch einmal zusammen.
Immer mehr Hunde folgten ihrem Beispiel, ließen sich Halsbänder und Leinen umlegen und trotteten bereitwillig ins Freie.
Die Kleinen und Schwachen unter ihnen wurden in die Transportboxen gesetzt und getragen. Die ganze Karawane aus den helfenden Menschen und ihren vierbeinigen Gefolgen war schon im Hof der Perreira angekommen, als es plötzlich laut wurde.
Die Befreiungsaktion war nicht unentdeckt geblieben. Die Wächter der Tötungsstation waren von dem Bellen der Hunde geweckt worden und stürzten nun, mit Gewehren bewaffnet, auf den Hof. Sie schossen warnend in die Luft und befahlen den Tierschützern sofort stehen zu bleiben. Es entstand ein heilloser Tumult, denn die Hunde gerieten durch die Schüsse so in Panik, dass sie sich von ihren Rettern losrissen und instinktiv zum Ausgang rannten.
Nun schossen die Wächter auch auf die Hunde, was ein noch größeres Durcheinander bewirkte.
Die Retter bemühten sich, die Wächter am Schießen zu hindern und die flüchtenden Hunde versuchten zu entkommen.
Ein großer kräftiger Mischlingsrüde setzte sich an die Spitze und rannte in gestrecktem Galopp eine Straße entlang.
Wer nicht vom Kugelhagel getroffen wurde und tot oder schwer verletzt zu Boden sank, tat es ihm gleich.
Die Galgohündin versuchte, mit ihren Welpen den ausgewachsenen Hunden zu folgen. Ein Schuss ertönte und die Kugel traf sie ins hintere Bein und nahm ihr jegliches Gefühl darin. Doch sie durfte nicht stehen bleiben. Laut aufjaulend nahm sie all ihren Lebensmut zusammen und rannte auf drei Beinen der flüchtenden Meute hinterher.
Sie liefen und liefen, bis sie das Stadtende erreichten. Keiner sah noch einmal zurück. Und die schwer verletzte Galgohündin versuchte, tapfer mitzuhalten. Doch zum einen waren ihre beiden Söhne viel zu klein für dieses Tempo, und zum anderen verlor sie selbst so viel Blut, dass sie spürte wie ihre Kräfte schwanden.
Nachdem sie mühevoll die letzten Häuser hinter sich gelassen und die Landstraße erreicht hatte, brach sie im Straßengraben zusammen. Ängstlich und müde drückten sich die Welpen an ihre sterbende Mutter. Die letzten Gedanken der Hündin galten ihren kleinen Söhnen.
Wie sollten sie ohne sie überleben? Was würde aus ihnen werden?
Sie spürte ihr Ende nahen. Noch einmal leckte sie den Kleinen über die schwarzen Knopfnasen, bevor sie ihren Kopf in den Staub legte und ihre Sinne schwanden.
***
Kapitel 1
»Und ich werde doch auf die Insel gehen! Da kannst Du Dich auf den Kopf stellen!«
Claire Bennett sah ihren Bruder Mark gar nicht an und fuhr ungehindert mit dem Kofferpacken fort.
»Aber Claire, sei doch vernünftig! Du allein in Spanien auf einer Finca mitten in den Bergen. Das ist doch viel zu gefährlich!«
Seit einer halben Stunde versuchte Mark Bennett nun bereits, seine ältere Schwester umzustimmen, aber vergeblich. Was sich die wunderschöne Frau mit ihren langen, blonden Engelslocken einmal eingebildet hatte, das führte sie auch durch. Und sie hatte es sich nun mal in den Kopf gesetzt, ein Jahr auf Gran Canaria zu verbringen, um dort ihr neues Buch zu schreiben.
Mark schüttelte resignierend den Kopf. Seiner großen Schwester sah man ihre 40 Jahre wirklich nicht an. Ihre tadellose, sehr weibliche Figur mit den üppigen Brüsten steckte in einer hautengen schwarzen Jeans und einer weiten, schwarzen Baumwollbluse, die in der Hüfte von einem breiten Gürtel aus ineinander verschlungenen Messingringen zusammengehalten wurde. Der um zwei Jahre jüngere Rechtsanwalt wollte sich gar nicht ausmalen, was Claire auf der kanarischen Hauptinsel so ganz alleine alles passieren könnte.
»Du wirst Freiwild für jedes männliche Wesen im Umkreis von zig Kilometern sein. Die Spanier sind bekannt für ihre Heißblütigkeit!«
»Was noch lange nicht bedeuten muss, dass sie über jedes weibliche Wesen herfallen, dass ihnen in die Quere kommt«, unterbrach Claire ihren besorgten Bruder. »Mensch Mark, entspann Dich mal wieder! Ich bin schon ein großes Mädchen und werde auch ganz bestimmt gut auf mich aufpassen.«
Claire unterbrach das Kofferpacken und nahm ihren Bruder fest in die Arme.
»Kleiner Bruder, ich versteh ja, dass Du nur mein Bestes willst, aber ich muss hier raus! Ich habe mich die letzten zwei Jahre rund um die Uhr um Vater gekümmert. Versteh mich bitte nicht falsch! Ich habe es gerne getan. Aber jetzt, wo er tot ist, brauche ich mal eine Auszeit. Ich will raus in die Natur, meine Ruhe haben und dann endlich wieder ein Buch schreiben. Mein Verleger wird schon ganz ungeduldig.«
»Und was ist mit Lilly?«
Mark erwiderte die Umarmung, als könne er sie so festhalten und am Abreisen hindern.
»Was soll schon mit Lilly sein? Sie ist erwachsen. Na, fast auf jeden Fall. Sie studiert in Berlin, steht auf eigenen Beinen. Und ob sie nun alle paar Wochen nach München fliegt oder nach Las Palmas, um mich zu besuchen, ist doch auch egal.«
»Ach Clärchen«, Mark strich ihr eine vorwitzige Locke aus dem Gesicht, »kann ich Dich denn mit gar nichts umstimmen?«
»Du sollst mich nicht immer Clärchen nennen«, schmollte Claire gespielt beleidigt, »und Du kannst mich nicht umstimmen!«
»Aber wenn Du Hilfe brauchst, dann wirst Du mich sofort anrufen! Ich setze mich dann in den nächsten Flieger und bin zur Stelle, versprichst Du mir das?«
»Ja, versprochen! Du darfst mich jetzt auch zum Flughafen fahren.«
Claire sah sich noch einmal prüfend um, ob sie auch nichts vergessen hätte. Sie war froh, nun endlich aus der alten, angestaubten Villa mit ihrem wuchtigen, einengenden Mobiliar heraus zu kommen. Hier fehlte ihr die Luft zum Durchatmen. Und außerdem war überall noch die Anwesenheit ihres verstorbenen Vaters zu spüren.
Zwei Jahre lang hatte sie ihn hier gepflegt, nachdem er nach einem Schlaganfall an den Rollstuhl gefesselt und ein Pflegefall geworden war. Ausgerechnet er, der starke, über alles erhabene Rechtsanwalt Dr. Theodor Bennett lag hilflos im Bett wie ein Baby. Die Zeit war nicht einfach für Claire. Oft musste sie ihren Groll hinunterschlucken, wenn ihr Vater wieder herumbrüllte und sie und die verbliebenen Angestellten, ein Hausmädchen, eine Krankenpflegerin und den Gärtner, schikanierte.
Tapfer hatte sie es ertragen und ihre Wünsche und Belange hintenangestellt. Vor einem Jahr war dann auch ihre Tochter Lilly mit 19 Jahren ausgezogen, um in Berlin Medizin zu studieren. Nun war sie ganz allein mit dem grantigen alten Herrn, der keinen Tag vorübergehen ließ, ohne nicht seine verdammte Situation zu verfluchen.
Die Ärzte gaben ihm nach dem Schlaganfall bereits nur noch wenige Monate zu leben. Deshalb willigte Claire auch überhaupt ein, mit Lilly zu ihm in die Villa zu ziehen. Sie kündigte ihre wunderschöne Altbauwohnung im Münchner Stadtteil Schwabing und widmete sich fortan nur noch ihrem Vater, weil sie sich dazu verpflichtet fühlte.
Doch der Alte war ein zäher Kerl und so wurden aus den wenigen Monaten über zwei Jahre.
Vor vier Wochen war er nach einem weiteren Schlaganfall verstorben.
Mark würde nun mit seiner Familie, seiner Frau Franziska und ihrem gemeinsamen zweijährigen Sohn Finn, in die Villa einziehen. Aber natürlich erst, wenn sie das muffige alte Gemäuer nach ihren Wünschen umgestaltet hätten.
*
Der schwere Jeep raste über die Serpentinen der steilen Bergstraße. Aber Isabel war hier aufgewachsen. Sie kannte jede Biegung, jeden Felsbrocken, der vorwitzig aus dem Bergmassiv hervorlugte. Selbst jede Bodenwelle war ihr vertraut. Viele tausend Male war sie diese Strecke schon gefahren. Niemals würde sie unachtsam ihr Leben und vor allem das ihres kleinen Sohnes Alejandro gefährden. Aber sie mussten hier weg. Keinen Tag länger wären sie mehr sicher gewesen. Tapfer versuchte sie, ihre Nervosität vor Alejandro zu verbergen und sang ein fröhliches Kinderlied mit dem Sechsjährigen. Dabei sah sie ständig in den Rückspiegel, bis sie plötzlich den Verfolger hinter sich wahrnahm.
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