Lea Badura - Die Stimme der Vergessenen
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Lea J. Badura Die Stimme der Vergessenen
Lass die Erde beben, sich rächen oder rette sie aus ihrer Not.
Widme dich ihrer Schönheit, ihren Abenteuern und denen,
die sie schützen – oder zerstören.
1. Lebendig
Der Wind brachte die Bäume zum Beben. Seine Böen rissen an ihren Kronen und die dicken, soliden Stämme ächzten, bogen sich unter seiner Kraft. Klappernd und knarrend schlugen ihre Äste aneinander und ihr Laub raschelte und klang dabei wie Wasser in einem reißenden Fluss.
Alisha blickte gen Himmel und kniff dabei die Augen zusammen. Sie hatte nicht mehr viel Zeit um die Proben einzusammeln und nach Hause zu schaffen. Dennoch, das hier war wichtig und sie würde nicht eher gehen, wie sie alles zusammen hatte. Sie würde Roy nicht die Gelegenheit geben, sie auszulachen und sie mit diesem selbstgefälligen, überheblichen Blick anzusehen, der sagte: Ich hab es dir ja gleich gesagt, Kleine!
Dabei hatte er überhaupt kein Recht, sie Kleine zu nennen. Alisha war schließlich genauso alt wie er. Nur weil er sie um einen Kopf überragte … Sie knirschte aufgebracht mit den Zähnen und schloss kurz die Augen, um sich wieder zu beruhigen. Leise nuschelte sie vor sich hin und bedachte Roy mit allerhand Schimpfwörtern. Das brachte sie wie immer zuverlässig wieder runter und sie konnte ihre Hand ohne Zittern zielstrebig mit dem kleinen Spatel in die Erde bohren lassen.
Es war wichtig, was sie heute hier fand. Davon hing vielleicht die gesamte Zukunft des Nationalparks ab. Wenn nicht sogar die Zukunft der Natur an sich. Beton, Glas und Stahl waren auf dem Vormarsch und Alisha wusste, wenn sie sie nicht aufhielten, dann würde auch dieser Teil, dieses Stück Unberührtheit sterben und das letzte Grün aus ihrer Stadt verschwinden. Sie hasste das.
Doch tun konnte sie nichts dagegen.
Die großen Konzerne kümmerten sich nicht um das, was sie ihnen vorlegte. Um die Zahlen und Tabellen, die Berichte und Beobachtungen von Wildtieren, die sich nur in freier Natur richtig wohlfühlten, nicht in umzäunten, künstlich bepflanzten Zoogehegen.
Alisha war so aufgebracht, so nervös und innerlich aufgewühlt, dass sie beinah übersah, was nun geschah.
Sie hatte den Spatel tief in die weiche Erde gebohrt und schaufelte eine Probe davon in eines ihrer Reagenzgläser. Gerade als sie den Deckel zuschraubte, begann die lockere Erde darin sich zu bewegen. Alisha zuckte zusammen, dachte sich jedoch noch nicht viel dabei. Vielmehr verdrehte sie die Augen über sich selbst und schalt sich in Gedanken einen Feigling, nur weil sie vor irgendeinem in der Erde lebenden Krabbeltier erschrocken war. Doch als sie zurück in das kleine Loch blickte, dass sie geschaffen hatte, stockte ihr der Atem.
Die nahen Pflanzen, unter deren Füßen Alisha die Probe nahm, ließen ihre Wurzeln wuchern. Es krabbelte und zappelte in dem Loch, doch das junge Mädchen war sich sicher, dass es keine Insekten waren. Insekten gab es schon seit langer Zeit nur noch vereinzelt. So viele auf einmal hatte sie noch nie gesehen. Und es waren auch keine Krabbeltierchen. Es waren die Wurzeln der Pflanzen, die das kleine Loch ausfüllten, sich in ihm wanden und umeinander schlängelten, bis ein solides Gebilde aus grünen und weißen, zarten Wurzelchen entstand, das gar nicht mehr so zart wirkte. Sie formten eine Spitze und dann stießen sie mit einem lauten Fauchen zu.
Alisha schrie erschrocken auf und fiel nach hinten auf den Po. Doch das pflanzliche Messer, der Speer aus Wurzeln, folgte ihr, stach nach ihr. Und weiterhin fauchten die Pflanzen. Fast, als wollten sie sich verteidigen. Fast, als wollten sie nicht mehr nur zusehen, sondern selbst handeln.
„Du warst nicht dabei!“, schrie Alisha Roy an. Dieser lachte nur trocken auf und sah sie mit einem so zweifelnden Gesichtsausdruck an, dass sie ihn am liebsten vors Schienbein getreten hätte. Doch sie war keine zwölf mehr, sie war zwanzig und war durchaus in der Lage, sich mit Roy Armstrong, dem eingebildetsten Volltrottel des ganzen Kontinents vernünftig zu unterhalten.
Wenn jetzt nur noch er ebenso vernünftig wäre … Stattdessen lachte er sie aus und bezichtigte sie, eine viel zu blühende Fantasie zu haben!
Das Schlimmste daran war, dass Alisha sich selbst nicht mal mehr sicher war, was sie dort draußen gesehen hatte. Sie war rückwärts gekrochen, außerhalb der Reichweite der Pflanzen und sofort war ihr Fauchen verstummt und sie zogen die Wurzeln wieder ein. Lässig entwanden sich die Ranken und verschwanden stumm in der Erde. Nachdem Alisha sich beruhigt hatte, stand sie auf und tastete sich vorsichtig zu dem kleinen Loch vor. Sie erwartete, das Gebilde aus Wurzeln darin zu sehen – angriffsbereit, lauernd.
Doch das Loch war leer. Und die Erde seiner Wände war glatt und fest – kein Anzeichen dafür, dass sich Wurzeln hindurchgebohrt hatten.
Hatte sie sich das nur eingebildet? War sie vielleicht kurz eingenickt? Nein! Sie wusste, was sie gesehen hatte. Oder … hatte es gewusst. Bis Roy sie jetzt auslachte.
„Oh bitte, Lish! Sei vernünftig.“ Okay, vielleicht war sie doch nicht ganz so erwachsen. Vielleicht sollte sie ihm doch eine kleben. Nur des Spaßes halber. Sie tat es natürlich nicht, kniff nur die Augen zusammen und presste die Kiefer aufeinander. Um nicht mit den erstbesten Schimpfwörtern herauszuplatzen, schrie sie Roy in Gedanken an, nannte ihn einen dummen Idioten und noch viel schlimmere Dinge. Ihre Wut kühlte sich dadurch gerade so weit ab, dass sie ihm den nächsten Kommentar nicht vor die Füße spuckte.
„Ich weiß, was ich gesehen habe, Roy. Und wenn du mir nur ein wenig vertrauen würdest, dann würdest du nicht so mit mir sprechen!“ Und dann drehte sie sich um und ließ den betroffen dreinblickenden jungen Mann einfach stehen.
In dieser Nacht schlief Alisha nicht. Stattdessen wartete sie, bis im Institut die Lichter ausgingen und auch Roy, die Nachteule endlich in sein Zimmer verschwand. Dann schlug sie die Decke zurück und stand auf. Sie hatte sich am Abend gar nicht erst ausgezogen, sondern einfach mit ihren Arbeitsklamotten ins Bett gelegt. Das sparte ihr jetzt Zeit und sie nahm ihren Rucksack mit der Ausrüstung und schlich den Schlaftrakt entlang. Außer Roy waren nur noch wenige andere Studenten hier. Und natürlich ihr Professor. Doch die schliefen alle schon und Alisha kümmerte sich nicht um sie. Vom Schlüsselbrett in der Eingangshalle nahm sie den Autoschlüssel für den Van und schloss dann leise die Tür hinter sich. Wenn Roy ihr nicht glauben wollte, dann würde sie ihm eben beweisen, dass etwas mit den Pflanzen vorging.
Das Gewitter, das sich früher am Nachmittag angekündigt hatte, war inzwischen vorübergezogen und der Boden unter Alishas Füßen war nass, als sie aus dem Van stieg. Das Elektroauto stand am Beginn des Nationalparks. Zwar hätte sie mit ihm reinfahren können, doch Alisha ging lieber zu Fuß. Sie schätzte die Natur.
Es dauerte trotzdem nicht lang, bis sie an der Stelle von heute Vormittag angelangt war. Nichts wies mehr darauf hin, was hier geschehen war. Die Pflanzen waren ruhig, ihre Blüten geschlossen, als schliefen sie und das kleine Loch war schon wieder verschwunden. Vom Regen war Erde darüber gewaschen worden. Alisha hielt kurz Inne und sah sich um. Die Dunkelheit verhinderte es, dass sie allzu weit sah und der grellblaue Xenon-Scheinwerfer in ihrer Taschenlampe konnte nur einen begrenzten Teil vor sich ausleuchten. Die Baumkronen über ihr raschelten, als flüsterten sie zu ihr oder tuschelten untereinander. Alisha versuchte, sich einzureden, dass es ganz und gar nicht bedrohlich klang. Schnell packte die die Taschenlampe fester und machte einen Schritt vom Weg hinunter hinein in den kleinen, aber dichten Wald.
Sofort verschwanden die letzten Stadtgeräusche und Stille umfing sie. Nach zwei weiteren Schritten wurde diese jedoch ersetzt – durch den Atem des Waldes. Irgendwo neben ihr brach ein Zweig, ein kleines Tier huschte über den Boden und ließ dabei ein Rascheln zurück, irgendwo krächzte ein Vogel und sein Flügelschlagen drang bis an Alishas Ohr. Sie war noch nie nachts im Wald gewesen und obwohl sie ihn liebte, war ihr etwas bang zumute.
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