Wenn ich etwas in meinem Leben gelernt hatte, dann, dass movere automatisch als erstes in den Kreis der Verdächtigen aufgenommen wurden. Und auch als zweites.
Und zwar so ziemlich alle, die a die möglichen Fähigkeiten besaßen, b eingetragen waren – also den Zusatz im Pass nachweisen konnten und c in der Nähe wohnten. Oh, fast vergessen: d, die einem einfach nicht in den Kram passten. Ich selbst hatte das Spielchen schon ein paar Mal hinter mir.
Jedoch nie in einer Sache, derer ich tatsächlich schuldig gewesen wäre.
Ja, ich war ein eingetragener movere . Wie alle movere in den letzten 30 Jahren. Nur so bekam man den Zusatz im Pass.
Davor hatte man es nicht publik machen müssen. Jetzt allerdings war es Vorschrift, sich als das kenntlich zu machen, was man war. Von mir aus. Diese Kennzeichnung sagte lediglich, dass ich mich genetisch von anderen Menschen unterschied, indem ich in die Schublade der Telekinese gesteckt worden war.
Im weitesten Sinne waren alle movere Telekinetiker, da sie Dinge beeinflussten. Sei es durch Bewegung oder Manipulation. Ich selbst kannte vier, die allesamt in derselben Schublade steckten wie ich. Telekinese war ein Wort, was für so ziemlich alle möglichen Fähigkeiten stand, für die es keinen Namen gab; die man dennoch irgendwie katalogisieren musste. Claude, ein movere , mit dem ich in die Schule gegangen war, hatte die Gabe das Feuer zu beherrschen. Nicht nur das: Er konnte es durch seinen Willen entfachen. Auf seinen bloßen Händen! Im Prinzip tat auch er nichts anderes als Teilchen zu beeinflussen. Er fiel in den Bereich der Pyrokinetik.
Sascha, ein anderer movere , konnte das Gleiche; allerdings mit Wasser. Da es dafür keinen Namen gab… Nun, er war einer der erwähnten vier, die mit mir in der Schublade der Telekinese hofierten.
Dabei war oftmals nur eine von mehreren Fähigkeiten angegeben. Bisher hatte die Regierung sich für kein Gesetz entschieden, das vorschrieb, dass man alle Fähigkeiten anzugeben hatte.
Zumindest nicht einstimmig.
Welch ein Glück!
Ich persönlich war dagegen, dass präzise Angaben gemacht wurden. Nicht, weil ich selbst ein movere war, sondern weil ich es unnötig hielt. Wie unter allen Menschen, egal ob mit oder ohne Zusatz, gab es gute, weniger gute und echt durchgeknallte Typen. Bei einem Verbrechen, egal welcher Art, war es auch jetzt schon so, dass als erstes immer die movere verdächtigt wurden. Selbst fast 60 Jahre nach den großen Revolutionen. Wenn dann auch noch aufgeschrieben werden würde, was welcher movere anstellen könnte, hätten wir bald ein drittes Salem.
Jeder movere war zwangsläufig gefährlich; wie jeder andere Mensch auch.
Nehmen wir Claude: Natürlich konnte er ein Feuer legen und – wenn er das wollte – jemandem aus reiner Boshaftigkeit die Haare versengen. Oder denjenigen selbst in Brand stecken. Aber war er dadurch gefährlicher als ein normaler Mensch mit Brandbeschleuniger und Feuerzeug oder gar mit Pistole?
Wohl kaum.
Man sollte die Relationen im Auge behalten.
Das Potential zur Gewalt war überall vorhanden. Egal bei welcher Rasse. Meist jedoch waren die am aggressivsten, die sich bedroht fühlten. Die der Meinung waren, ihre Existenz vor Gefahren retten zu müssen oder einen um sich greifenden Rachefeldzug starteten. Die Geschichte hatte uns das mehr als einmal bewiesen.
Was würde also passieren, wenn wir movere uns bedroht fühlten?
Wären wir so zurückhaltend wie unsere Vorfahren zur Zeit der zwei großen Revolutionen, aus Angst, dass man uns für Monster hielt?
Ich hatte erhebliche Zweifel daran.
Eine Tasse Tee in der Hand ging ich aus der Küche. Dabei warf ich einen kurzen Blick die Treppe hinauf, auf deren Absatz ein Engel milde lächelte. Ich hatte die knapp einen Meter hohe Statue meiner Freundin Laura schenken wollen.
Leider hat Laura das letzte Weihnachten nicht mehr erlebt.
Mit einem leichten Kloß im Hals schlurfte ich in die Wohnstube, in der ich mich auf die Couch plumpsen ließ – nachdem ich den Tee abgestellt hatte – um meiner momentanen Lieblingsbeschäftigung nachzugehen: Dem Fernsehen.
Wie sollte ich bloß den Sommer überstehen, ohne eine einzige Grillparty mit meiner Laura?
Aber hey, noch war nicht Sommer und alles war besser als schon jetzt daran zu denken.
Draußen dämmerte es bereits. Obwohl es heute Morgen sonnig ausgesehen hatte, war der Tag mit Wolken verhangen gewesen, die letztendlich doch ihre Schleusen öffneten. Der Regen prasselte so laut ans Fenster, dass er sogar den Fernseher übertönte. Sollte mir recht sein... ich saß im Trockenen. Während ich an meiner Teetasse nippte, überlegte ich, seit wann ich eigentlich abends mit Tee da saß anstatt mit Kaffee.
Heilige Waldfeegroßmutter!
Mutierte ich zur feinen Lady oder schlimmer – zur alternden Dame vom Land? Fehlte nur noch, dass ich mir einen Dackel zulegte und Strickzeug.
Ich hasste stricken!
Argwöhnisch schaute ich in die Tasse und entschied mich, endlich wieder die zu werden, die ich gewesen war.
Dazu gehörte auch Kaffee; eine ganze Menge davon.
Beinah hätte mich der Schock einen Meter in die Luft springen lassen, als mitten in meinem Vorhaben in die Küche zu gehen, Bingham Senior in meiner Wohnstube auftauchte.
Schluckend und meine Stirn runzelnd betrachtete ich den jungen Mann, der älter war als ich, meine Brüder und meine Eltern zusammenaddiert. Sein Blick war eisig, sein Lächeln nicht echt. Verflixt, warum ich?
Konnte der alte Vampir nicht irgendwo anders zum Teekränzchen auftauchen?
„Guten Abend, Samantha. Wie geht es Ihnen?“ Wow, so was von freundlich! Die Worte waren gut gewählt, aber in der Art, wie er sie sagte, hätte er mich auch fragen können, wem ich gern mal das Gesicht streicheln wollte ... mit einem Vorschlaghammer. „Danke, ganz gut. Und Ihnen? Was… verschafft mir die… ähm, Ehre Ihrer Anwesenheit?“
Hoffentlich nicht noch ein Wandler. Von denen hatte ich die Schnauze gestrichen voll.
„Nun, ich möchte mich mit Ihnen unterhalten, meine Liebe.“
Irgendwas an seinem Auftreten war nicht ganz koscher. Ich wusste nur nicht was. Im Bruchteil einer Sekunde stand er hinter mir. Sein Arm lag um meinen Hals. Er hielt mich so, dass ich mich nur bewegen könnte, sofern ich vorhatte mich zu strangulieren. „Eigentlich bevorzuge ich gar nicht zu reden. Sie haben kein Recht zu leben, Samantha. Eine Mörderin wie Sie muss bestraft werden. Aber ich habe nicht die erforderliche Geduld, um auf die langsam mahlenden Mühlen des Gesetzes zu warten.“ Keuchend schnappte ich nach Luft, als er seinen Arm lockerte, wobei er mit seiner Linken in meine kurzen Haare griff und meinen Kopf zur Seite riss. „Es könnte schnell gehen. Aber ich will, dass Sie leiden.“
Mir schwante nichts Gutes.
Besonders weil ich keine Möglichkeit fand, mich gegen ihn zu wehren. Ich musste seine Energiepunkte schon sehen, um ihre Namen zu erkennen. Denn in meiner Panik erinnerte ich mich blöderweise an keinen einzigen. Doch da er hinter mir stand – und ich keine Augen am Hinterkopf besaß – war das unmöglich.
Ich versuchte zu sprechen, zu schreien, zu brüllen ... doch kein Wörtchen entrang sich meiner Kehle. Mein Herz klopfte derart laut in meinen Ohren, dass ich darauf gefasst war, dass es jeden Moment aus meinem Brustkorb sprang.
Oder aus meinen Ohren.
Um kreischend im Zickzack in die Sicherheit zu hüpfen.
Und dann traf mich unvermittelt ein stechender, ziehender Schmerz. Bingham gaukelte mir nicht einmal vor, dass sein Biss etwas anderes war als das. Ich hörte das Schmatzen, als er mein Blut trank. Das hämmernde, rasende Klopfen meines Herzens, das immer lauter wurde, obwohl ich das nicht für möglich gehalten hätte. Ich fühlte den pochenden Schmerz an meinem Hals, an dem seine Zähne meine Haut durchbohrten. Zur Bewegungslosigkeit verdammt, konnte ich nichts dagegen unternehmen.
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