Ich hatte Klaus nicht kommen hören, ich sah nur plötzlich, daß sich die Tür öffnete und er den Kopf hereinsteckte. "Mein Gott, du sitzt ja im Dunkeln,” wunderte er sich. “Darf ich reinkommen?”
Ich nahm die Kopfhörer ab. “Sicher, setz dich doch.” Ich rutschte zur Seite, um ihm neben mir auf der Couch Platz zu machen. "Es ist schon spät, gibt es etwas Besonderes...?"
“Nein, nicht direkt. Ich habe nur seit einer Ewigkeit nichts mehr von dir gehört.” Ein leiser Vorwurf lag in seiner Stimme. “Was war denn nur los?”
Sein Anorak war naß vom Regen. Er zog ihn aus, hängte ihn über die Lehne des Stuhles vor dem Schreibtisch und rieb sich die feuchten Hände. “Ein paarmal habe ich versucht, dich anzurufen, doch entweder warst du noch nicht zu Hause oder du hast bereits geschlafen.”
Er setzte sich nicht, sondern beugte sich zu mir herunter, gab mir einen Kuß und strich mir über die Wange. "Karin, du weißt, daß ich mir Sorgen um dich mache.”
“Das ist völlig unnötig, mir geht es gut," antwortete ich. Dabei war mir bewußt, daß seine Sorgen nicht unberechtigt waren, nur daß er den Grund dafür in einer ganz anderen Richtung suchte. Hatte er mich nicht vor zu vielen Überstunden gewarnt? Hatte er nicht befürchtet, daß ich ausgenutzt werden würde?
Aber nein, ich fühlte mich nicht ausgenutzt. Im Gegenteil. Ich war dazu ausersehen, an einem einzigartigen Experiment teilzunehmen. War es in den Wochen zuvor schon aufregend genug gewesen, bei den ersten Tests dabei gewesen zu sein, so übertraf das, was das Timeflyer-Team nun mit mir vor hatte, bei weitem alles bisher Vorstellbare.
Doch das konnte ich Klaus nicht sagen.
Er seufzte, lief zum Fenster und schaute hinaus. Im Schein der Straßenlaterne konnte ich sein Profil erkennen. "Du arbeitest weit mehr, als nur die übliche Stundenzahl, hast kaum mehr Freizeit. Gibt es denn nur noch das Institut für dich? Du kannst nicht dein Privatleben dafür aufgeben und deine Freunde vergessen."
"Dr. Weißgerber leitet zur Zeit ein überaus wichtiges Projekt, und dabei braucht er meine Hilfe und meine Unterstützung," verteidigte ich mich kleinlaut.
Was hätte ich ihm denn anderes sagen sollen?
Kopfschüttelnd schaute er mich von der Seite an. “Du machst es doch nicht nur des Geldes wegen, oder?”
“Nein, natürlich nicht.”
“Aber weshalb dann? Ich sehe doch, daß es dich belastet. Wie lange soll denn das noch so weitergehen?"
Ich wußte, daß er glaubte, es ginge nur um Schreib- und kleine Hilfsarbeiten, die ich für den Doktor übernommen hatte. "Bis dieses Projekt abgeschlossen ist."
"Könnte das jetzt nicht mal eine andere machen? Sprich doch mal mit Gaby, vielleicht würde sie sich auch gern ein paar Mark dazuverdienen. Zumindest könntet ihr euch die Arbeit teilen.”
"Nein, das geht nicht.”
"Und warum nicht?”
"Weil Dr. Weißgerber möchte, daß ich diese Arbeit erledige. Hätte er Gaby gewollt, hätte er sie gefragt."
"Dr. Weißgerber! Dr. Weißgerber! Wenn ich diesen Namen schon höre.” Ich konnte sehen, wie er mit den Augen rollte. “Manchmal würde ich ihn am liebsten umbringen, deinen Doktor.”
Ich stöpselte die Kopfhörer aus und startete die Platte über die Lautsprecher-Boxen. "Er ist nicht mein Doktor!"
"Zuweilen könnte man es aber meinen."
Ich drehte die Lautstärke weiter auf, als könnte ich damit das leidige Thema beenden. Blackhead-Charlys Stimme nahm den ganzen Raum ein. Sie veränderte ihn, erfüllte ihn mit Wärme und Zärtlichkeit. Doch Klaus hörte gar nicht hin. "Mensch, Karin! Schmeiß doch den ganzen langweiligen Kram hin," schlug er vor. "Sag ihm: 'Ich mag nicht mehr.' Soll er sich doch eine andere Dumme suchen.”
Ich stand auf und knipste das Licht an. Die plötzliche Helligkeit tat den Augen weh. “Es ist nicht so, wie du denkst, Klaus. Ich mag diesen ‘langweiligen Kram’, wie du es nennst. In Wirklichkeit sind die Dinge, mit denen sich der Doktor beschäftigt, alles andere als langweilig."
"Du tust gerade so, als verstündest du etwas davon," antwortete er spitz und drehte die Musik leiser. Ärgerlich drehte ich wieder auf.
"Du hast auch bloß die Mittlere Reife," fuhr er fort. "und vom Abtippen allein wirst du noch lange keine Gelehrte. - Dreh die Musik leiser!”
"Nein!”
Mit zornigem Funkeln trafen sich unsere Blicke.
Er streckte die Hand nach dem Regler aus, ich griff nach seinem Handgelenk und hielt ihn zurück, - und plötzlich erschien mir das ganze Theater so sinnlos. "Müssen wir uns denn immer nur streiten, wenn wir uns sehen?” fragte ich leise. "Komm, hör dir diesen Song an, er ist wunderschön."
"Aber ein bißchen leiser, okay?”
Ich drehte den Knopf um einen Millimeter zurück. “Besser?”
Er hatte mich durchschaut und mußte lachen. "Mir gefallen unsere Streitereien auch nicht, Karin,” sagte er, ließ sich seufzend auf die Couch fallen und zog mich neben sich.
Mit einer Kopfbewegung wies er auf den Blackhead-Charly-Poster an der Wand. "Was findest du bloß an diesem Kerl da," fragte er kopfschüttelnd.
Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter. "Er hat eine so faszinierende Stimme."
"Das ist aber auch alles. Schau ihn dir doch an."
Ich wußte, daß es nichts bringen würde, mit ihm über Blackhead-Charly zu streiten, deshalb wechselte ich das Thema. "Und bitte, schimpf nicht jedesmal, wenn wir uns sehen, über den Doktor. Du änderst nichts an meiner Entscheidung. Ich tu’s für ihn, weil er ein wirklich guter Chef ist."
Klaus hob hilflos lächelnd die Schulter. "Manchmal könnte man glauben, er bedeute dir mehr als ich."
Ich mißverstand ihn absichtlich und lachte. "So ein Unsinn, er ist doch viel zu alt und viel zu klug für mich." Dann bat ich: "Laß mir Zeit, Klaus. Dr. Weißgerbers Arbeit beschäftigt mich im Augenblick wirklich mehr, als sie es eigentlich sollte.”
"Dann laß uns darüber reden.”
“Das ist unmöglich. Da geht es um Dinge, über die ich mit keinem Außenstehenden reden darf.”
"Auch nicht mit einem Freund?” Behutsam küßte er mich auf die Wange.
“Nein, auch nicht mit einem Freund. Und nach einem langen Arbeitstag bin ich im Moment am liebsten allein und höre Musik. Dabei kann ich abschalten und auf andere Gedanken kommen. Das hat nichts mit dir zu tun, und auch nicht damit, daß ich nichts mehr von dir wissen will. Bitte, versuch doch einfach, mich zu verstehen.”
Er legte die Arme um mich und hielt mich ganz fest. Ich spürte seine Traurigkeit. "Ich versuche es ja,” sagte er dicht an meinem Ohr. “Aber ich wünschte, diese Phase, in der du gerade steckst, ginge so schnell wie möglich wieder vorbei."
Ich kannte Klaus schon seit meiner frühesten Kindheit. Bereits im Kindergarten hatten wir zusammen gespielt und waren auch während der Schulzeit immer gute Freunde geblieben. Zumindest bis zur achten Klasse, danach hielt er mich plötzlich für albern und meinte, ich lache zuviel. Mich dagegen störte es, wenn er vor anderen Mädchen den Clown spielte, um ihnen zu imponieren. Das hatte zur Folge, daß wir uns eine Zeitlang aus dem Weg gingen und uns kaum mehr sahen.
Schon während meiner Teenagerzeit schwärmte ich für Musiker, und für mich stand fest, daß der Junge, der mein Herz erobern wollte, unbedingt Gitarre spielen oder doch wenigstens singen sollte. Ich träumte von einem George Michael, einem Bon Jovi oder einem, der es mit den Boys von Duran Duran aufnehmen konnte. Klaus sah zwar nett aus, doch mit dem Singen und der Musik hatte er nichts am Hut. Seine große Leidenschaft galt jeglicher Art von Motoren, gleichgültig, unter welcher Karosserie sie steckten, und so machte er nach der Schulzeit sein Hobby zum Beruf und begann eine Lehre als Automechaniker. Schon während seine Freunde noch mit ihren knatternden Mopeds die Gegend unsicher machten, hatte er sich bereits aus ausrangierten Fahrzeugteilen sein erstes eigenes Vehikel zusammengebastelt. Drei oder vier Jahre später lief er mir erneut über den Weg, und mit Erstaunen stellte ich fest, wie sehr er sich verändert hatte. Aus dem schmalen Jungen war ein attraktiver junger Mann geworden, und der Blick, mit dem er mich nun ansah, schmeichelte mir. Das war der Anfang unserer neu erwachten Freundschaft, und schon bald wurde mehr daraus.
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