"Das denke ich auch," sagte Kalle. Er ließ sich in den Raum führen, der in Zukunft sein Domizil sein sollte und stellte Taschen und Gitarre neben dem alten Sofa ab. Für den Moment fühlte er sich erleichtert, denn ihm war nichts Ungewöhnliches an den Mädchen aufgefallen. Im Gegenteil, er fand sie sogar ausgesprochen nett. Jede auf ihre Art.
Im Wohnzimmer wartete Viola bereits auf ihn. "Hallo, Partner," begrüßte sie ihn mit ihren blitzenden blauen Augen. "Setz dich doch! Ich denke, es gibt noch jede Menge zu besprechen.”
Inzwischen war es November geworden. Es nieselte den ganzen Tag, und durch die Straßen fegte ein kalter Wind, der buntes Laub vor sich hertrieb. Es wurde früh dunkel, und die Abende waren ungemütlich und kühl.
Der Vertrag mit der Fischer KG. war zum 31.Oktober abgelaufen, und Kalle bemühte sich seither, mit dem gesparten Geld so gut wie möglich zu haushalten, bis er eine neue Arbeit gefunden hatte. Für den bevorstehenden Winter brauchte er wärmere Kleidung, deshalb drehte er die Mark zweimal um, bevor er sie ausgab.
Seit er bei den Mädchen im Wohnturm wohnte, ging es ihm zwar besser, als bei Josch und Biene, das bedeutete aber auch, daß jeden Monat ein fester Betrag für die Miete draufging. Obwohl ihm Dany angeboten hatte, darauf zu verzichten, falls er einmal knapp bei Kasse sein sollte, hatte er von Anfang an darauf bestanden, sich an allen Kosten zu beteiligen. Sein Stolz ließ es nicht zu, sich von einem Mädchen etwas schenken oder bezahlen zu lassen, lieber würde er auf all die Annehmlichkeiten verzichten, die ihm im Wohnturm zugute kamen, und sich wieder in der Schwanenstraße einquartieren.
Sein Zimmer im Wohnturm war nicht gerade üppig ausgestattet. Das alte Sofa diente ihm als Nachtlager, und Fredy hatte ihm von Freunden einen alten Schrank besorgt, in dem er die wenigen Sachen, die er besaß, unterbringen konnte. Er legte keinen besonderen Wert auf eine aufwendige Einrichtung, für ihn war dieser Raum lediglich ein Platz zum Schlafen, und nur eines zählte: Er hatte es warm, alles war sauber und ordentlich, und sein Leben verlief fast wieder so normal, wie zu Hause in Bretzingen. Allerdings freute es ihn, als Petra die leeren Wände mit bunten Kalenderblättern dekorierte und sogar einige Stücke ihrer Postkartensammlung opferte, - ein Beweis dafür, wie hoch er bei ihr im Kurs stand.
Zu Anfang war er noch der Meinung gewesen, Viola hätte sich am Schmuckstand spontan in ihn verliebt und sei an einer Beziehung mit ihm interessiert. Nachdem er gründlich darüber nachgedacht hatte, sagte er sich, daß es wahrhaftig Schlimmeres geben mochte. Sie war ein hübsches Mädchen, nett und gescheit, es mußte ja nicht für ewig sein. Als er jedoch mit ihr allein war und sie küssen wollte, wand sie sich geschickt aus seinen Armen, legte ihm lächelnd den Finger auf den Mund und sagte: “Gestern war gestern, und heute ist heut.”
Nicht, daß es ihm etwas ausgemacht hätte, von ihr zurückgewiesen zu werden, er war nur ziemlich überrascht. Vor allem aber fühlte er sich verunsichert nach diesem Zwischenfall, weil er nicht wußte, wie er sich künftig ihr gegenüber verhalten sollte. Zunächst hielt er sich abwartend zurück, da aber auch sie weiterhin auf Distanz blieb, akzeptierte er ihre Entscheidung mit einem Achselzucken. Trotzdem fragte er sich manchmal, was sie wohl dazu bewogen haben mochte, mit ihm zu schlafen, wenn er ihr doch so vollkommen gleichgültig zu sein schien. War es ein Ausrutscher gewesen, den sie inzwischen bereute? War sie einfach nur einer Laune gefolgt? Oder gab es irgendwo einen anderen Jungen, den sie ihm vorzog? Und warum waren Dany und Petra mit Violas einseitiger Entscheidung sofort einverstanden gewesen, ohne ihn überhaupt zu kennen? Er erinnerte sich an Fredys Worte und versuchte, weder Viola noch den beiden anderen Mädchen Anlaß zu der Vermutung zu geben, er hätte es auf eine von ihnen abgesehen. Dadurch ergab es sich wie von selbst, daß er nur sehr wenig seiner Freizeit im Wohnturm verbrachte.
Es war Zufall, daß er eines Tages dann doch hinter Violas Geheimnis kam. Ihm war aufgefallen, daß sie mit Dany Blicke und kleine Zärtlichkeiten tauschte, wenn sie sich unbeobachtet glaubten. Kleine liebevolle Gesten, die über das übliche Verhältnis zweier Freundinnen hinausgingen. Aha, dachte er, das also war der Grund für ihre Zurückhaltung, und deshalb hatte ihn Fredy gewarnt. Na gut, er war kein Moral-Apostel, und er wäre der Letzte gewesen, den das in irgendeiner Weise gestört hätte. Doch wenn sie es schon zu verheimlichen suchten, warum hatten sie ihm dann überhaupt angeboten, bei ihnen zu wohnen, anstatt allein und unentdeckt zu bleiben?
Im Gegensatz zu Dany und Viola, die viel ausgingen und sich oft mit ihren Freunden trafen, verbrachte Petra ihre Abende meistens allein zu Hause vor dem Fernseher. Sie war süchtig nach Seifen-Opern und Serien und verpaßte kaum eine Folge. Sie liebte und litt mit ihren Helden, fluchte und schimpfte, wenn ihnen etwas Böses widerfuhr und schluchzte vor Glück oder Leid, je nachdem, was ihnen gerade zugestoßen war.
Kalle mochte das kleine Mädchen mit der Brille und den blonden kurzen Locken, sie war ein netter unkomplizierter Kerl. Ein kleiner Wirbelwind, immer freundlich, immer gut gelaunt. Ein bißchen einfältig und naiv vielleicht, denn sie zeigte ihm ganz unverhohlen, daß sie Gefallen an ihm gefunden hatte, und daß sie ihre Freundschaft gern ein wenig vertieft hätte. Immer wieder inszenierte sie neue Versuche, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Einmal war sie sogar nachts in sein Zimmer gekommen, angeblich aus Angst vor einem Gewitter, und er hatte sie, wie ein ungezogenes Kind, wieder zurück in ihr Bett geschickt.
Trotz ihrer Eskapaden war es ihm unmöglich, ihr böse zu sein. Für ihn war und blieb sie ein liebenswerter kleiner Kindskopf, und es wäre ihm niemals in den Sinn gekommen, etwas anderes in ihr zu sehen.
Auch in der Stadt hatte Kalle inzwischen Fuß gefaßt. Seine Abende verbrachte er entweder im Alligator am Leopoldsplatz, oder im Kentucky, zwei Häuserblocks weiter. Manche der jungen Leute, mit denen er zusammenkam, mochte er, weil er mit ihnen über alles mögliche reden konnte, von anderen wußte er nicht einmal den Namen. Sie ihrerseits schätzten ihn, weil er bei verschiedenen kleinen Streitigkeiten Partei für sie ergriffen hatte, und als er sich eines Tages sogar mit seinen Fäusten für ihre Sache eingesetzt hatte, wurde er fast so etwas wie ein Held für sie. Ihn deshalb einen Schläger zu nennen wäre falsch gewesen. Er sah sich nur gern in der Rolle des Beschützers, der den Hilflosen und Schwachen zu ihrem Recht verhalf und für sie kämpfte. Notfalls eben auch mit den Fäusten. Das sprach sich schnell herum, und wann immer er irgendwo auftauchte, fand sich bald der eine oder andere derer an seiner Seite, die sich seine Freunde nannten.
Als Kalle an diesem Novemberabend in den Alligator kam, war nicht sehr viel los, und er beschloß, ausnahmsweise früh wieder nach Hause zu gehen. Er schlürfte den Schaum vom Bier und beobachtete die übrigen Gäste, von denen er so gut wie jeden kannte, weil es fast immer dieselben waren, die sich hier trafen. Nur in der Ecke am Fenster saß diesmal einer, den er bisher noch nie gesehen hatte.
“Wer ist denn der dort drüben?” fragte er den Jungen neben sich. “Der mit den langen Haaren und dem Bart? Kennst du ihn?”
Der Junge folgte seinem Blick. “Ach der!” Er machte eine abfällige Handbewegung. “Das ist Carlo, der Spinner. Den kennt doch jeder.”
“Wieso hab ich ihn dann noch nie hier gesehen?”
“Weil er noch nicht sehr lange aus Berlin zurück ist. Er verbringt jedes Jahr den Sommer dort.”
“Und warum nennst du ihn einen Spinner? Danach sieht er eigentlich gar nicht aus.”
“Er ist auch nicht wirklich verrückt, wenn du das meinst. Er ist einfach nur ein Sonderling, hat ein paar recht verrückte Ansichten.”
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