Sie grinste. “Nein, aber ich habe drei Brüder.”
Pit beschwor Kalle noch immer. “In Zukunft solltest du ihnen aus dem Weg gehen. Du stehst jetzt auf ihrer schwarzen Liste, und sie werden nicht eher Ruhe geben, bis sie dich nach Strich und Faden vermöbelt haben. Man kommt ihnen nicht ungestraft in die Quere. Sie zum Feind zu haben ist so ziemlich das Schlimmste, was einem passieren kann.”
“Mach dir mal keine Sorgen um mich. Sollen sie nur kommen, ich kann mich wehren,” antwortete Kalle zuversichtlich. Hatte er das nicht gerade wieder bewiesen? Er würde es auch ein nächstes Mal mit dem Hartmann aufnehmen.
Der Fremde mit den langen Haaren, der schweigend in seiner Ecke gesessen und ihnen zugeschaut hatte, stand auf und lief zur Theke hinüber, um seine Rechnung zu bezahlen. Kalle, der ihm im Weg stand, trat einen Schritt zur Seite und machte ihm Platz. Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. Die Augen des Fremden waren grau. Es waren helle klare Augen, und es lag keinerlei Feindseligkeit in ihnen. Nur Unverständnis und vielleicht ein leiser Vorwurf. Dazu ein Hauch aufrichtigen Mitleids. Kalle hielt ihm Stolz und eine Portion Überheblichkeit entgegen, die der andere zwar registrierte, ihm aber nicht übelzunehmen schien, denn er lächelte. Und obwohl sich beide auf ihre Art dagegen zu wehren suchten, konnten sie doch nichts tun gegen den Anflug von Sympathie, der sie in Sekundenschnelle erfaßt hatte.
“Gute Nacht,” sagte der Fremde.
Kalle sah ihm nach. “Gute Nacht.”
Dann wandte er sich wieder seinen Kameraden zu und überlegte, was als nächstes zu tun war. “Andy, du hast doch ein Auto, kannst du Pit nach Hause fahren?”
Der verletzte Junge hob die Hände und schüttelte heftig den Kopf. “Oh nein, glaubst du vielleicht, ich ginge jetzt nach Hause? Ich wette, sie stehen längst vor meiner Tür und warten auf mich. Ich habe keine Lust, gleich noch mal eine Tracht Prügel zu kassieren.”
”Hast du Freunde, bei denen du übernachten kannst?”
“Ich wüßte jetzt nicht...”
Kalle dachte kurz nach. “Gut, dann kommst du mit zu mir.”
Pit lachte trocken. “Das bringt doch nichts. Wie ich sie kenne, wird bereits ein Trupp auch vor deiner Haustür stehen.”
“Die wissen doch gar nicht, wo ich wohne. Der Hartmann kann unmöglich meine neue Adresse kennen. Der denkt wahrscheinlich, er findet mich noch immer in der Schwanenstraße. Und dort kann er auf der Lauer liegen, bis er schwarz wird.”
Andy Kramer erklärte sich bereit, Kalle und Pit in seinem alten Opel zum Wohnturm zu fahren, und erst, als er die Anlage dreimal langsam umkreist hatte und ihnen nichts Verdächtiges aufgefallen war, hielt er und ließ die beiden aussteigen. Kalle hatte von der Straße aus zum Wohnzimmerfenster hinaufgeschaut und festgestellt, daß es dunkel war. ‘Keiner zu Hause’, hatte er gedacht, doch als er die Korridortüre aufschloß und seine Hand schon am Lichtschalter lag, hörte er Stimmen und bemerkte einen Lichtstreifen hinter Violas nur angelehnter Tür. Viola und Dany stritten miteinander.
“Es war doch deine Idee,” hörte er Viola sagen, “was machst du mir jetzt Vorwürfe.”
“Es war aber nicht meine Idee, den erstbesten anzuschleppen,” antwortete Dany ärgerlich. “Du weißt, ich habe nichts gegen Kalle, wirklich nicht. Ich mag ihn sogar sehr gern. Aber du hättest dir rechtzeitig überlegen sollen, ob er auch für unsere Zwecke der Richtige ist.”
“Hätte ich ihn vielleicht fragen sollen?”
“Warum nicht? Das wäre nur fair gewesen. Wir hätten ihm offen und ehrlich sagen sollen, was wir von ihm erhoffen.”
“Dann wäre er nie geblieben.”
“Na und? Dann hätten wir uns eben nach einem anderen umsehen müssen. Aber er hätte zumindest gewußt, woran er ist.”
Kalles Hand rutschte vom Lichtschalter. Er machte Pit ein Zeichen, ihm wortlos zu folgen und schob ihn in sein Zimmer. “Warte hier auf mich,” flüsterte er ihm zu, "ich bin gleich zurück."
Viola hatte Geräusche gehört und kam auf den Flur heraus. “Petra, bist du’s?”
“Nein, ich bin’s,” gab sich Kalle zu erkennen. “Sorry, daß ich im falschen Augenblick gekommen bin. Es war nicht meine Schuld, daß ich einen Teil eurer Unterhaltung mit angehört habe. Ich glaube, ihr seid mir eine Erklärung schuldig.”
Viola war erschrocken. “Mein Gott, Kalle, das tut mir leid. - Komm rein. Es ist richtig, wir hätten schon lange mit dir reden sollen.”
Obwohl sie ihm Platz anbot, blieb er an den Türrahmen gelehnt stehen, während sie sich wieder neben Dany auf den Bettrand setzte. Die Mädchen schauten sich betreten an.
“Du darfst das nicht falsch verstehen, Kalle,” nahm nun Dany das Wort, “im Grunde geht es gar nicht wirklich um dich.”
“Sondern?”
Sie spielte nervös mit ihren Armreif. “Setz dich doch lieber,” bat sie leise, “es redet sich leichter, als wenn du dort wie auf dem Sprung an der Tür stehst.”
Kalle setzte sich. “Also? Dann schießt mal los.”
Dany zündete sich eine Zigarette an und sagte zu Viola: “Ich finde, eigentlich ist es deine Sache, es ihm zu erklären.”
Viola nickte und schaute ihn mit ihren leuchtend blauen Augen an. “Wir haben die Wohnung jetzt seit fast zwei Jahren,” begann sie. “Zuerst wohnte ich hier mit Dany allein. Das heißt, genaugenommen ist es Danys Wohnung. Sie nahm mich bei sich auf, weil wir... Freundinnen geworden waren. Du verstehst, was ich meine?”
“Ja.”
“Nein!” Sie seufzte resigniert. “Du verstehst es eben nicht! Was ich meine, ist, daß Dany nicht nur meine Freundin ist, sondern sie ist... ist...”
“Du brauchst nicht ins Detail zu gehen, ich kann mir tatsächlich denken, was du meinst,” antwortete Kalle gereizt.
Dany blies langsam den Rauch aus. Sie hatte die hübschen langen Beine übereinandergeschlagen und beobachtete ihn aus schmalen Augenschlitzen. “Bist du sicher?”
“Mein Gott, ich bin weder blind noch beschränkt,” sagte Kalle ärgerlich. “Ihr seid ein Paar, na und? Von mir aus könnt ihr machen, was ihr wollt. Das geht mich nichts an, und das interessiert mich auch nicht. Nur, - was hat das alles mit mir zu tun.”
Viola schluckte. “Ich habe nicht erwartet, daß du es gemerkt hast,” meinte sie. “Wie ich schon sagte, zuerst habe ich mit Dany allein hier gewohnt, doch dann ist meinen Eltern etwas über uns zu Ohren gekommen. Sie haben mich zur Rede gestellt, aber ich habe es abgestritten. Ich habe ihnen gesagt, alles, was sie gehört haben, sei nur dummes Geschwätz gewesen. Daraufhin haben sie uns meine Schwester geschickt. - Ja, Petra ist meine Schwester. Meine Stiefschwester. Sie soll, wenn man so will, auf mich aufpassen, soll zu Hause genau Bericht erstatten, verstehst du?”
“Das einzige, was ich nicht verstehe, ist, warum ihr ein Geheimnis daraus macht. Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter.”
Dany zog an ihrer Zigarette und lachte trocken. “Siehst du, genau das predige ich ihr jeden Tag.”
Viola sah Kalle unglücklich an. “Du kennst meine Eltern nicht,” sagte sie leise. “Mein Vater ist Pfarrer in einer kleinen Gemeinde, in der jeder jeden kennt. Für ihn wäre es eine Katastrophe, wenn herauskäme, daß ich....”
Kalle zuckte die Schultern. “Schön und gut, aber das ist euer Problem. Ich wüßte nicht, wie ich euch dabei helfen könnte.”
“Eines Tages hatten wir dann eine brillante Idee," fuhr Viola fort. "Jedenfalls dachten wir das. Wenn wir einen netten Freund für Petra fänden, dachten wir, dann hielte sie vielleicht den Mund, verstehst du? Sie weiß genau, daß es unsere Eltern nicht gern sehen würden, wenn sie schon einen Freund hat, sie ist erst sechzehn. Aber wenn es mit euch beiden geklappt hätte, dann hätten wir sagen können: Okay, Kleine, wenn du schweigst, dann schweigen wir auch. - Eine blöde Idee, ich weiß, aber...”
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