Doris Vogt-Köhler
Gestrandet in Weimar
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Inhaltsverzeichnis
Titel Doris Vogt-Köhler Gestrandet in Weimar Dieses ebook wurde erstellt bei
Gestrandet in Weimar Gestrandet in Weimar Wimari, Wehmari, Weimar Grenze einstiger Vereisung Hügel umgeben von Wassermassen Sicherheit für Mensch und Tier Geweihte Niederung Überraschend endlos die Grausamkeiten
Zum Inhalt Zum Inhalt Stellen Sie sich vor, wieder Schüler zu sein, in einem Klassenraum zu sitzen und auf dem Schulhof herumzutollen. Da bleiben Rangeleien nicht aus. Wecken Sie diese Erinnerungen und tauchen Sie ein in die Schulatmosphäre eines in die Ecke gestellten weiblichen Lehrertorsos. Erinnern Sie sich an die eigene Bauecke mit den vielgestaltigen Bauklötzen und natürlich an die Deutschstunden, in denen Grammatik wie das Partizip II gepaukt wurde. „Gestrandet“ ist so ein Mittelwort, das geprägt wird durch Vorsilbe und Endung. Dazwischen liegt das Hauptwort „Strand“. Es gibt lebendige, einsame und tote Strände in diesem Buch, aber ein kostbarer erlebniswerter Strand bleibt das Städtchen Weimar. Spazieren Sie entspannt mit Blicken rechts und links auf die Menschen entlang dieses Strandes und entdecken am Horizont das große Meer des Menschseins.
1 Schule
2 Kinderhaus
3 Alleingelassen
4 Begegnung
5 Familienbande
6 Absturz
7 Abschied
8 Hintereinanderweg
9 Schule
10 Freitod
11 Zwiebelmarkt
12 Lächeln
13 Freundschaft
14 Ende und Anfang
Impressum neobooks
Wimari, Wehmari, Weimar
Grenze einstiger Vereisung
Hügel umgeben von Wassermassen
Sicherheit für Mensch und Tier
Geweihte Niederung
Überraschend endlos die Grausamkeiten
Stellen Sie sich vor, wieder Schüler zu sein, in einem Klassenraum zu sitzen und auf dem Schulhof herumzutollen. Da bleiben Rangeleien nicht aus. Wecken Sie diese Erinnerungen und tauchen Sie ein in die Schulatmosphäre eines in die Ecke gestellten weiblichen Lehrertorsos. Erinnern Sie sich an die eigene Bauecke mit den vielgestaltigen Bauklötzen und natürlich an die Deutschstunden, in denen Grammatik wie das Partizip II gepaukt wurde. „Gestrandet“ ist so ein Mittelwort, das geprägt wird durch Vorsilbe und Endung. Dazwischen liegt das Hauptwort „Strand“. Es gibt lebendige, einsame und tote Strände in diesem Buch, aber ein kostbarer erlebniswerter Strand bleibt das Städtchen Weimar.
Spazieren Sie entspannt mit Blicken rechts und links auf die Menschen entlang dieses Strandes und entdecken am Horizont das große Meer des Menschseins.
1 Schule
Lehrerin Elvira Jung
Nebel. Erste Ampel Grünphase. Zweite Ampel Steinbrücke Oberweimar. Eine edelförmige Festung mit überwältigender Eleganz erhöht über jegliche Wassergefahr. Die kleine Ilm überfliegen. Bei Grün darüber fahren, und alles ist abgestreift, alle quälenden Gedanken versenkt in der Ilm. Glücklich. Erledigt. Alles hinter der Brücke gelassen. Ampel Belvederer Allee. Der Vordermann pennt. Beide Autos hätten es geschafft, vor dem Bus der Linie 1 links in die Berkaer Straße abzubiegen. Gnädig lässt man die Fahrzeuge stadtauswärts vorbeirollen. Trotzig mit zusammengebissenen Zähnen Halt vor der Ampel Breitscheidstraße. Fleckenlos leuchtet das Rot durch den Nebelschleier. Blutiger Heiland. Nein, so etwas darf Elvira nicht denken. Das Rot als Signal mit Blut zu assoziieren, das ist pervers. Einigermaßen erholt von dem Schrecken ihrer Gedanken die Ampel Poseckscher Garten. Alle meine Kochtöpfe rechts und links mit Rührlöffeln in der rechten Hand und Glimmstängeln im Mund. Egal, welche kreativen Handbewegungen sie Elvira zeigen, sie wartet auf die Grünphase. Ampel Trierer Ring. Grün. Ein Freudenblitz der Parkplatz in der Shakespearestraße. Endlich wieder in ihrer Schule.
Was war das? War sie im falschen Film? Seit drei Jahren kannte sie die Gesichter ihrer Schüler. Jedem Schüler hatte sie ihren ganz persönlichen Namen gegeben. Genauer gesagt, eine Datei mit Namen in ihrem Kopf angelegt, in der sie die wichtigsten Dinge abspeicherte. Der Name einer Gesichtsdatei stimulierte sie am Morgen fröhlich oder auch wachsam zu sein. Gregor Weinbaum hieß bei ihr Kalaschnikow oder AK-47, wenn sie sich Aufzeichnungen machen musste. Es gab kaum eine Schlägerei auf dem Schulhof, an der er nicht beteiligt war. Wie ein Sturmgewehr richtete er seine gekrümmten Fäuste auf alles, was sich seiner Meinung nach falsch bewegte. Präziser ausgedrückt war Kalaschnikow der Schatten von Facebook. Als sie Kevin Höfel zum ersten Mal sah, fiel ihr sofort der Name Facebook ein. Sein Gesicht war einfach zu großflächig dominierend. Auch seine Borstenhaare konnten es nicht niederdrücken. In seinen Mundwinkeln sammelte sich ständig eine klebrige Speichelmasse, die sich bei gelegentlichen, unverhofften sprachlichen Anforderungen durch Lehrer oder andere Schüler, enorm aufschäumen konnte. Wenn er sprach zogen sich Schleimfäden von der borkigen Zunge ganz untypisch und nicht der Erdanziehungskraft folgend seitlich zu den Wangen. Plötzlich verschwanden diese filigranen zwiebelmusterartigen Gebilde in den Hautzellen. Besonders bei einem Vortrag, den er zu halten hatte, versuchte Elvira Jung dem Phänomen auf die Schliche zu kommen oder Muster dieser Schleimfäden zu erkennen und wie sie in den porösen Zellen verschwinden konnten. Oft wurde ihre Aufmerksamkeit von den Beobachtungen dermaßen in Anspruch genommen, dass sie gar nicht mehr wusste, worüber Facebook referierte, geschweige den Inhalt des Gesagten kannte. Sie fragte dann erst einmal die Schüler, wie sie den Vortrag einschätzen und benoten würden.
Da es Facebook an eigenen Gedanken und Erfahrungen mangelte und er nur die der anderen Facebookschreiber weitergeben konnte, versuchte er diesen Mangel mit blasiger zum Teil schmutziger, stinkender Fantasie auszugleichen. Die Folge waren Streitigkeiten, die er mit Vorliebe durch Körperkontakt austrug, aber nur, wenn er Kalaschnikow in Reichweite vermutete. Sie erinnerte sich noch gut an eine Schlägerei im vergangenen Schuljahr, weil das Resultat ihrer Herangehensweise sich als positiv erwies. Erfolgserlebnisse dieser Art streicheln das Gemüt eines Lehrers ganz besonders. Was war geschehen:
Große Pause. Es klopfte energisch an der Lehrerzimmertür. Jemand öffnete. Wie ein spulender Kreisel rollten die Augen des frisch ausgebildeten Schülerstreitschlichters, der noch unter der Fernwirkung seiner Schulung stand, über die Lehrerköpfe. Endlich hatte er Frau Jung entdeckt, und sie solle ganz schnell mal vor die Tür kommen. Gleich legte der Streitschlichter los:
„Ihre Schüler da haben zum wiederholten Mal eine Schlägerei auf dem Schulhof angezettelt.“ Dabei zeigte er auf die in sich hinein feixenden Jungen Kalaschnikow und Facebook an der gegenüberliegenden Wand. Der Streitschlichter wurde vermutlich von hochqualifizierten Lehrern, also von Pädagogen, die in Leitzentralen sitzen und damit weit von der täglichen Realität entfernt, geschult. Die von den Schülern abgeschirmten Kollegen konnten sich solche faustischen Sachen ausdenken in der festen Überzeugung, ein Allheilmittel gegen die oft brutalen Schlägereien erfunden zu haben. Die Schlägereien interessierten sie selbst weniger, wenn da nicht die unzensierten Pressemitteilungen und statistischen Erfassungen gewesen wären. Diese alphabetisch abheftenden Statistiker hatten den Streitschlichter in so eine Schieflage gebracht. Sie hatten ihm suggeriert, es läge an der schlampigen Hofaufsicht, an den gleichgültigen Lehrern oder aber an der Verantwortungslosigkeit des Klassenlehrers, wenn Schlägereien auf dem Schulgelände ausgetragen würden. Also Schlägereien bitte immer vor dem Schulgelände. Die Erfindung der Schülerstreitschlichter war in den Augen von Elvira Jung Kindesmissbrauch in höchster Potenz. Die Kinder sollten es richten, sollten verschlissen werden, weil die Verantwortlichen ohnmächtig waren, ein gesundes Selbstwertgefühl der Schüler mittels gut ausgebildeten, belastbaren Lehrkräften und diesbezüglich abgestimmten Lehrplänen zu entwickeln. Das betraf nur die Schule. Das Wirrsal darumherum musste gelenkt werden. Die Familie, in die sich die Kinder nicht mehr zwängen lassen wollten. Die googelnden Medien machten einige Schüler völlig wehrlos, fesselten sie und breiteten sich aus in Raum und Zeit.
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