“Und ihr dachtet, ich wäre der Richtige für sie?”
“Ich dachte es,“ sagte Viola. “Du bist genau der Typ..."
“Weil ich gleich am ersten Tag...?”
Sie warf ihm einen schnellen, beschwörenden Blick zu, und er verstand. “...weil ich mich gleich am ersten Tag hab einladen lassen und bereit war, zu bleiben?”
Viola atmete auf. “Du kommst mit Mädchen gut zurecht. Und du bist genau der Typ, auf den sie fliegt, das wirst du selbst schon gemerkt haben. Ich dachte, wenn sie erst einmal um dich herumtanzt... Petra ist ein lieber Kerl. Es hätte ja sein können, daß du darauf eingegangen wärst, - daß du dich vielleicht sogar in sie verliebt hättest.”
Kalle schüttelte den Kopf. “Tut mir leid, daß ich euch enttäuscht habe. Sie ist zwar wirklich ein netter Kerl, aber ich habe mich nicht in sie verliebt. Und ich hatte auch niemals vor, mich in irgendeiner Weise mit ihr einzulassen.”
Die beiden Mädchen schwiegen.
“Das bedeutet also, ihr müßt weitersuchen,” sagte Kalle und stand auf. “Und ich werde mich wohl oder übel nach einer neuen Wohnung umsehen müssen.”
“Nein!” riefen beide wie aus einem Mund.
“Natürlich nicht, Kalle,” beteuerte ihm Viola. “Wir mögen dich, und wir haben uns an dich gewöhnt....” Sie lächelte hilflos.
Er hob die Schultern. “Aber ich hab die Erwartungen nicht erfüllt, die an euer Angebot geknüpft waren. Jetzt muß ich Platz machen für einen anderen, mit dem ihr vielleicht mehr Glück habt. Glaubt ihr denn, ich würde mich jetzt hier noch wohlfühlen?”
“Das tut uns sehr leid.”
Müde fuhr er sich mit der Hand über die Stirn und seufzte. Leb wohl Badezimmer, dachte er, leb wohl Waschmaschine, Fernseher, gemütliches Wohnzimmer.. Es wäre auch zu schön gewesen. Das also war der Haken, den er befürchtet hatte. Dieses unbestimmte, unangenehme Gefühl hatte sich letztendlich also doch als richtig erwiesen. In gewisser Weise war er sogar froh darüber, daß er nun endlich wußte, woran er war. “Ich werde versuchen, etwas anderes zu finden, aber ich weiß natürlich nicht, wie schnell es klappen wird.”
“Kalle!”
“Schon gut, c’est la vie!” Er ging zur Tür, wandte sich dann aber noch einmal um und sagte: “Ich habe einen Freund mitgebracht. Er hatte einen kleinen Unfall und kann heute nacht nicht mehr nach Hause. Wenn ihr nicht wollt, daß er im Wohnzimmer auf der Couch schläft, schlafe ich dort, dann kann er in meinem Zimmer übernachten.”
“Natürlich kann er auf der Couch schlafen, Kalle” sagte Dany, und Viola fügte schnell hinzu: “Wir haben nichts dagegen.”
Auf dem Flur lief ihm Petra über den Weg, sie war gerade nach Hause gekommen. “Hallo, Kalle, du bist aber früh dran heute.” Sie hängte ihren Mantel an die Garderobe. “Kommst du mit rüber zum Fernsehen?”
“In meinem Zimmer wartet ein Freund von mir...”
“Na, den bringst du mit. - Habt ihr schon was gegessen? Ich habe einen Mordshunger. Wenn du willst, mach’ ich euch was mit.”
Sie knipste das Licht im Wohnzimmer an und schaltete den Fernseher ein. “Nun komm schon, hol deinen Freund. Im Zweiten kommt ein spannender Krimi.”
Dann steckte sie den Kopf in Violas Zimmer. “Hallo, ihr Hübschen, habt ihr schon gegessen?”
“Ja. Danke, Kleines,” hörte man Dany antworten.
“Wollt ihr euch denn wieder den ganzen Abend nur verkriechen? Schaut euch doch mit uns zusammen den Film an.”
“Wir kommen später.”
“Okay!” Petra stürmte in die Küche und begann, laut klappernd und vor sich hin trällernd, das Abendbrot zu richten.
Als sie Pit sah, hielt sie bestürzt inne. “Was ist denn mit dir passiert?”
Pit verzog das geschwollene Gesicht. “Ich hab das Pech gehabt, jemandem in die Faust zu laufen,” spaßte er, obwohl ihm eigentlich nicht danach zumute war. Selbst das Lächeln, zu dem er sich durchrang, fiel ihm schwer.
Petra setzte das Tablett ab und deckte den Tisch, ohne dabei den Blick von ihm zu wenden. “Kannst du denn überhaupt essen mit dieser Lippe?” fragte sie voller Mitleid.
“Du wirst ihn wohl füttern müssen,” neckte Kalle.
Aber sie bohrte weiter. “Jetzt erzähl mal, wie ist das passiert.” Und sie ruhte nicht eher, bis sie die ganze Geschichte kannte.
Es verging kein Tag mehr, an dem Pit nicht im Wohnturm vorbeikam und sich von Petra versorgen und bemitleiden ließ, oder daß er sie abholte, um mit ihr auszugehen. Spätestens nach einer Woche war jedem klar: Zwischen den beiden hatte es gefunkt. Kalle wußte nicht, ob er darüber lachen oder weinen sollte. Im Grunde hätte er froh sein sollen, daß jetzt endlich jemand gefunden war, der die Rolle übernahm, die eigentlich ihm zugedacht gewesen war. Andererseits sah er sich aber gerade deshalb genötigt, so schnell wie möglich auszuziehen. Da ihn die Mädchen jedoch nicht drängten, schob er den Gedanken, zu Josch und Biene zurückzukehren, immer wieder von sich, in der Hoffnung, doch noch etwas anderes zu finden.
“Ich verstehe gar nicht, warum du unbedingt ausziehen willst,” sagte Petra eines Morgens kopfschüttelnd zu ihm, als sie miteinander zur Straßenbahnhaltestelle liefen. Sie war Lehrling in einem Schuhgeschäft in Durlach. “Ist es dir denn nicht gut gegangen bei uns?”
Er lachte. “Oh doch! Besser, als ich es mir je hätte träumen lassen.”
“Na also! Und warum gehst du dann?”
Er hob die Schultern. Was sollte er ihr darauf antworten?
“Die Bedingungen haben dir nicht gefallen, stimmt’s?” meinte sie.
Er sah sie von der Seite an. “Was meinst du damit?”
“Oh, mein Gott,” schnaubte sie verächtlich. “Ihr tut alle, als sei ich blöd! Glaubst du, ich weiß nicht, daß wir zwei füreinander bestimmt waren?” Sie kicherte. “Aber du hast mich ja nicht gewollt! - Gut, akzeptiert, ich bin nun mal nicht dein Typ. Aber dann, - Ironie des Schicksals, - findest ausgerechnet du den Richtigen für mich! Nur leider nicht schnell genug eine andere Wohnung. - So ein Pech, was?”
Kalle blieb erstaunt stehen. “Sag mal...”
Sie lachte wieder. “Weißt du, Kalle, ich würde mich wirklich freuen, wenn du bei uns bliebst. Ehrlich. Du bist nämlich ein prima Kumpel. - Obwohl ich natürlich verstehen kann, daß du von uns die Nase voll hast. Weißt du, Pit würde eh’ nie zu uns ziehen. Und meine Schwester würde ich auch niemals verraten.”
“Hast du ihr das schon mal gesagt?”
“Nein.”
“Warum nicht?”
“Warum sollte ich. Sie behandelt mich wie einen Idioten und hält es nicht für nötig, mit mir wie mit einem vernünftigem Menschen zu reden. Sie kann ruhig noch eine Weile zappeln.”
“Mannometer!” Kalle lächelte und schüttelte den Kopf. “Du bist ein Mordskerl!”
“Danke! Deine Anerkennung kommt reichlich spät,” spottete sie. “Übrigens, da kommt meine Bahn. Noch schnell einen guten Rat von mir: Laß dir Zeit mit der Wohnungssuche und kümmere dich einfach nicht um unsere zwei Schönen.” Lachend stieg sie ein und winkte ihm aus der Bahn noch einmal fröhlich zu.
August 1987
Mir war aufgefallen, daß der Doktor abgenommen hatte. Er sah bleich und krank aus und wirkte fahrig und unkonzentriert. Seine sonst so korrekten Konzepte waren jetzt oft so lückenhaft und unzusammenhängend, daß ich beim Schreiben immer wieder nachfragen mußte. Irgendwann hielt er beim Diktat plötzlich mitten im Satz inne und fuhr sich mit einer matten Handbewegung über die Stirn.
“Ist Ihnen nicht gut, Herr Doktor?” fragte ich besorgt.
Er schüttelte den Kopf. “Nein, nein, es geht schon wieder.” Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Der fanatische Glanz, der noch vor Wochen von ihnen ausgegangen war, war erloschen. Er wirkte alt und unsagbar müde.
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