Der letzte Teil des Experiments, die Reise des Kaninchens in die Vergangenheit, war fast schon Routine für uns. Der Doktor öffnete das Lederkästchen, das er sorgsam verschlossen in seinem Schreibtisch aufbewahrt hatte, nahm den silberglänzenden streichholzschachtelgroßen 'Timeflyer', den wir ja bereits vom zweiten Häschen her kannten, heraus und band ihn mit Hilfe des Ledergurtes, an dem er befestigt war, um den Körper des Tieres.
Das verfrühte Schlagen der Turmuhr irritierte uns wieder, doch ich las die genaue Zeit von der Taschenuhr ab und gab sie an Dr. Weißgerber weiter. “Noch 30 Sekunden, 29..., 28..., 27...”
Herr Fröbel konnte nicht umhin, grinsend dazwischenzuflüstern: “Der Countdown läuft!”, was ihm einen strengen Blick von Prof. Riechling einbrachte. Der Doktor ließ sich dadurch jedoch nicht beirren. Ein kurzer schneller Druck auf den Knopf, der den Zeitsprung auslöste, und im nächsten Augenblick befand sich das Kaninchen auf seiner Reise in die Vergangenheit. Und was es dort erlebte, wußten wir ja bereits.
Die darauffolgende Stunde verbrachten wir nun ganz ohne Versuchstier. Der Doktor diskutierte mit seinen Gästen über verschiedene Aspekte, die das Phänomen Zeit betrafen.
Ich erinnerte mich, daß ich bereits lange vor dem ersten Experiment begriffen hatte, worum es in den Ausführungen des Doktors ging, denn er hatte über die sogenannte 'temporale Verschiebung‘ geschrieben, durch die es angeblich möglich sein konnte, von einer Zeit in die andere zu gelangen, sofern man herausfand, wie das zu bewerkstelligen war.
Doch was war Zeit überhaupt?
Im Lexikon las ich: 'Zeit ist, für die gewöhnliche Auffassung, ein kontinuierliches Fortschreiten, innerhalb dessen sich alle Veränderungen vollziehen.' Und weiter hieß es: 'In der Physik ist die Zeit eine, nach der täglichen Erfahrung, nicht beeinflußbare physikalische Größe, eine zu den drei Raumkoordinaten hinzutretende vierte Koordinate.‘
Dort stand es also Schwarz auf Weiß: ‘...nach der alltäglichen Erfahrung...‘ Das aber schloß die Möglichkeit nicht aus, daß eines Tages einmal jemand eine ganz andere Erfahrung machen konnte, und zwar die, daß Zeit eben doch beeinflußbar war.
Am nächsten Tag sprach ich den Doktor darauf an und erzählte ihm, was ich einerseits in seinem Bericht, andererseits im Lexikon gelesen hatte. Er lächelte, es schien ihm zu gefallen, daß ich mich dafür interessierte. Er bat mich in sein Büro und forderte mich auf, auf der Ledercouch Platz zu nehmen. Dann setzte er sich neben mich und breitete ein Blatt Papier vor uns auf dem Mosaiktisch aus.
“Man sagt, Zeit sei nur eine Illusion,“ begann er, “und alles, was geschähe, passiere in Wahrheit in einem einzigen Augenblickspunkt. Nun, für uns Menschen ist das unvorstellbar, denn wir empfinden sie als Aufeinanderfolge von Ereignissen, - anders kämen wir gar nicht damit zurecht. Früher stellten sich die Menschen die Zeit als eine gerade Linie vor, auf der wir, wie mit einem Schienenfahrzeug auf gerader Strecke vorwärtsfahren und nicht umkehren können. Durch die Allgemeine Relativitätstheorie, - Sie haben sicher schon davon gehört, nicht wahr? - wissen wir nun aber, daß die Zeit, wie auch der Raum, gewissen Krümmungen unterliegt.”
Mit einem Filzstift malte er ein sonderbares Gebilde auf das Papier, das einer in sich verschlungenen Schlange oder einem Knoten glich.
“Durch diese Krümmung können sich zwei Punkte dieser gewundenen Zeitschnur viel näher kommen, als wenn es sie nur auf einer geraden Linie gäbe. Von dem Punkt aus, an dem wir uns gerade befinden, also von unserer Gegenwart aus...”, - irgendwo auf der Schlange malte er einen dicken schwarzen Punkt, "...könnte es demnach wesentlich näher zur Vergangenheit oder zur Zukunft sein, als würden wir uns auf einer geraden Zeitlinie vorwärtsbewegen, und mit der richtigen Technik müßte es möglich sein, einen Teil des Weges quasi zu überspringen, - vorwärts oder rückwärts.”
Er malte einen dicken Strich vom Gegenwartspunkt hinüber zu einem Bogen der Schlange, der eigentlich in der Zukunft lag, ihn aber fast berührte. “Theoretisch wäre also nur eine gewisse temporale Verschiebung in die eine oder andere Richtung notwendig, wenn wir der Vergangenheit oder der Zukunft einen Besuch abstatten wollten. Sie haben sicher in meinen Aufzeichnungen davon gelesen.”
“Das ist unglaublich,” murmelte ich fasziniert. “Haben Sie sich schon überlegt, wie man das machen könnte?”
Er lächelte. “Genau daran arbeiten wir im Augenblick, der Professor und ich, Karin.”
Er atmete tief ein und fuhr dann fort: “Wir könnten uns beispielsweise einer ganz ‘natürlichen’ Methode bedienen.” Mit dem Filzstift begann er, eine weitere merkwürdige Figur zu zeichnen, ein Ding, das dem Endstück einer Trompete glich. Oder vielleicht eher einem Füllhorn? Einem Trichter?
“Die Physiker Einstein und Rosen haben nämlich festgestellt, daß es tatsächlich gewisse ‘Brücken’ gibt. Das sind Naturphänomene, die wir heute unter dem Begriff ‘Wurmlöcher’ kennen. Diese röhrenartigen ‘Tunnel’ erscheinen irgendwo und verschwinden wieder. Wenn wir vorhersehen könnten, wo und wann sie auftauchen, und wenn wir sie lange genug offen halten könnten, um sie zu nutzen, dann müßte uns das gelingen, was uns bisher noch unmöglich erscheint: Durch diese Tunnel könnten wir ohne große Mühe selbst weit entfernte Punkte in der Zunkunft oder in der Vergangenheit erreichen." Er machte eine kleine Pause, bevor er weitersprach. "Nun, Professor Riechling und ich versuchen seit geraumer Zeit, solche ‘Wurmlöcher’ künstlich zu erzeugen und auch offen zu halten. Winzig kleine Öffnungen nur, sozusagen ‘Miniwurmlöcher’, derer wir uns bedienen könnten.”
“Und wenn Ihnen das gelänge?”
“Dann wäre es uns möglich, beispielsweise einen Gegenstand durch diese ‘Röhre‘ in die Vergangenheit oder in die Zukunft zu schicken.”
“Mein Gott,” murmelte ich. “Und ein Mensch? Könnte auch ein Mensch durch diesen Tunnel gehen?”
Er hatte sich zurückgelehnt und tief geseufzt. “Soweit wollen wir noch gar nicht denken, Karin. Jetzt muß es uns erst einmal gelingen, ein künstliches Wurmloch zu erzeugen und es lange genug geöffnet zu halten. Und das hat sich als wesentlich schwieriger erwiesen, als wir befürchtet haben.”
Doch daß ihnen das letztendlich gelungen war, davon hatte ich mich inzwischen selbst überzeugen können.
Kurz nachdem das Kaninchen auf die Minute genau um 17 Uhr wohlbehalten wieder bei uns eingetroffen war, hatten sich auch Dr. Weißgerbers Gäste auf den Heimweg gemacht. Das Kaninchen war in seine Kiste verfrachtet und diese mit einem Deckel aus Maschendraht verschlossen worden, und der Professor hatte sie in sein Auto geladen, um das Tier zu seinem Besitzer zurückzubringen.
Ich hatte dem Doktor noch beim Aufräumen geholfen. Er sah müde aus, doch er schien zufrieden zu sein mit dem Verlauf des Experiments. Ich war froh, daß er mir anbot, mich nach Hause zu fahren, denn inzwischen ging es auf 2 Uhr zu.
Während der Fahrt war er sehr schweigsam, er schien vergessen zu haben, daß er mit mir hatte reden wollen. Zwar verstand ich, daß ihm nach diesem aufregenden Abend, und nachdem er unentwegt die Fragen seiner Kollegen beantworte hatte, der Sinn nicht mehr nach Konversation stand, doch ich war neugierig und erinnerte ihn deshalb daran.
“Ja,” meinte er nachdenklich und nickte, “ja. Aber ich denke, es muß nicht unbedingt heute sein. Ich werde ein anderes Mal darauf zurückkommen.”
Als ich später im Dunkeln in meinem Bett lag, war mein Innerstes noch immer angespannt bis zum Zerreißen. Ich hätte gern jemandem erzählt, was ich erlebt hatte, doch ich wußte, daß ich das nicht durfte. Ich hatte versprochen, diese Experimente niemals zu erwähnen, weder gegenüber meinen Eltern noch gegenüber Klaus. Mit niemandem durfte ich über dieses Thema reden, mit niemandem! ...Außer vielleicht...? Ich knipste das Licht wieder an. Außer vielleicht mit ihm, mit BlackheadCharly...
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