Zwischen Gabelfrühstück und Kaffee und Kuchen spazierten Serenus und der Bruder den Fluss entlang. Dieser war redselig und schwelgte im Erfolg. Seine Rechnung, Katholizismus mal Politik, war aufgegangen. Er war seit einem Jahr Hauptabteilungsleiter des Jugendstrafvollzugs und damit direkt dem Justizminister unterstellt. Um auf der Leiter in ein noch höheres Amt hinaufzusteigen, würde er vom Landtag gewählt werden müssen.
Nach der Linzer Torte verabschiedete sich Serenus, ohne dass ihn jemand nach seiner Arbeit oder seiner Scheidung gefragt hätte. Er nahm dieselbe Strecke, fuhr zum zweiten Mal an dem fröhlichen Gladiolenfeld vorbei und hielt bei einem Supermarkt, um Lebensmittel für das Wochenende zu besorgen.
Zehn Tage später besuchte Serenus die Mutter in der Universitätsklinik. Die Entfernung der Lymphdrüsen war kein großer Eingriff gewesen. Man hatte ihr dennoch starke Medikamente gegeben. Sie war etwas benommen und gleichzeitig ein wenig high . Serenus bemerkte ihre Erleichterung darüber, dass sie von den bedrohlichen Geschwüren befreit worden war. Sie berichtete ihm ausführlich von der Aufnahme am Vortag, von den Untersuchungen und der Visite des Chirurgen. Sie habe zwar nichts Richtiges zu essen bekommen, aber dafür eine Spritze, von der sie sofort eingeschlafen sei. Vom heutigen Vormittag und von der Operation habe sie so gut wie nichts mitbekommen. Sie habe etwa eine Stunde lang im Aufwachraum gelegen und wohl auch ein wenig geweint, bis der Anästhesist sicher gewesen sei, dass ihr Kreislauf stabil war. Dann sei sie wieder eingeschlafen und beim nächsten Erwachen habe der Vater neben ihrem Bett gesessen, bis Serenus gekommen sei, um ihn abzulösen. Die Mutter war von den Ereignissen der letzten Stunden ausgefüllt und interessierte sich nur dafür, was die Ärzte und Pfleger mit ihr anstellten. Serenus blieb bis kurz vor Mitternacht. Während des ganzen Besuches dachte er daran, dass er in ein paar Monaten einen neuen Job antreten würde. Aber das musste er jemand anderem erzählen.
Einige Tage später erhielt er einen Brief von der Anwältin seiner Ehefrau. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich vertreten lassen würde. Die Anwältin bat ihn, er möge ihr seinen Anwalt nennen, damit sie in Verhandlung treten könnten. Er rief umgehend seine Ehefrau an und fragte sie, was das solle. Sie war gar nicht gesprächig und antwortete nur, dass alle ihre Freundinnen ihr dazu geraten hätten. Serenus sagte kein weiteres Wort und legte gleich wieder auf. Also fragte auch er in seinem Bekanntenkreis herum und fand einen Anwalt, der als erfahren und hartnäckig galt.
Inzwischen waren die Eltern in die USA gereist. Serenus hatte Urlaub bekommen und flog an die Ostküste, wo er in einem Hotel in unmittelbarer Nähe der Klinik unterkam. Die Chemotherapie der Mutter wurde nach den neuesten Erkenntnissen durchgeführt. Die Ärzte bekämpften die Nebenwirkungen der Medikamente mit demselben Ehrgeiz, mit welchem sie gegen den Krebs vorgingen.
Sie erlaubten der Mutter alles, was sie wollte, auch spazieren gehen, ans Meer fahren oder zum Essen ausgehen. Aber an den meisten Tagen hatte sie keine Kraft dafür. Dann ließ sie ihr Bett auf den Balkon fahren, wo sie über die Wiesen und Wälder bis auf den Atlantik blicken konnte. Serenus glaubte zuerst, sie sei genauso gelassen und unerschütterlich wie vor der Operation. Aber bald bemerkte er, dass die Mutter ihre Unruhe lediglich verbarg. Er sah das Flackern in ihrem Blick, er bemerkte, wenn sie dem Gespräch nicht folgte und den Faden verlor. Sie schickte ihn weg, weil sie ein wenig ausruhen müsse, aber in Wirklichkeit wollte sie ungestört ihren Gedanken nachhängen.
Der Vater ging immer noch der Onkologie auf den Grund, besonders der Behandlung von Lymphomen. Er verbrachte täglich viele Stunden in der Bibliothek der Klinik und las ein Fachbuch nach dem anderen. Zu seiner Enttäuschung wollte keiner der Ärzte wissenschaftliche Debatten mit ihm führen. Manchmal hielt er Serenus einen kleinen Vortrag und fragte ihn nach seiner Meinung dazu.
An manchen Tagen nahm Serenus den Mietwagen und fuhr die Küste entlang oder durch die Hügel im Westen. Wenn er alleine war, fühlte er, wie sehr ihn die Situation belastete. Die Eltern ließen sich nicht anmerken, was sie durchmachten. Sie äußerten sich nicht zu ihren Ängsten und Wünschen, zu Leid und Hoffnung. Als Serenus nach zwei Wochen wieder abreiste, fühlte er sich erschöpft und freudlos.
Als er seinem Anwalt einen zweiten Besuch abstattete, trug dieser Sorgenfalten zur Schau. Er legte Serenus den Scheidungsvertrag vor, den die Gegenpartei aufgesetzt hatte. Aber ohne eine Zeile zu lesen, schob dieser das Papier weit von sich weg und fragte: „Können Sie in einem Satz sagen, was da drinsteht?“
„Unverschämtheiten. Sie müssen das rundweg ablehnen.“
„Können wir auch unverschämt werden?“, fragte Serenus.
Der Anwalt schüttelte den Kopf. „Wir müssen einen Gegenvorschlag machen, der sich ganz akribisch an die übliche Rechtsprechung hält. Wenn der Richter zwischen diesem Phantasievertrag“, er deutete auf die Blätter, „und unserem Gegenvorschlag entscheiden muss, wird er gar nicht erst nachdenken. Wir werden sorgfältig rechnen und argumentieren. Wenn die Gegenseite merkt, dass wir uns auf kein sinnloses Gemetzel einlassen, werden sie wahrscheinlich von selber vernünftig. Diese Anwältin kennt mich ziemlich gut. Vermutlich hat sie zu Ihrer Ehefrau gesagt: ‚Wir testen mal, wie naiv Ihr Ehemann ist.‘“
„Was sagt denn die übliche Rechtsprechung zur Sache?“, wollte Serenus wissen.
„Ich habe Ihre Unterlagen durchgesehen. Während Ihrer Ehe hatten Sie ein höheres Erwerbseinkommen und dementsprechend höhere Rentenbeiträge als Ihre Ehefrau. Darauf stützt die Anwältin ihre Forderungen. Aber das Vermögen Ihrer Ehefrau ist in den drei Jahren ganz schön gewachsen. In Ihrem Ehevertrag fällt der Vermögensgewinn unter die Gütertrennung. Ihre Ehefrau hatte unter dem Strich mehr Einkünfte als Sie. Damit kommen wir beim Gericht in jedem Fall durch.“
Er machte eine Pause und sah Serenus fragend an. Als dieser sein Einverständnis zeigte, fuhr er fort: „Ihr Schwiegervater hat sie beerbt. Statt einer Mitgift bekamen Sie ein vorgezogenes Erbe. Ihr Schwiegervater bestand darauf, diese Erbschaft vor der Eheschließung zu vollstrecken. Eine solch ungewöhnliche Regelung ist mir noch nie begegnet. Wie auch immer, die Gegenseite kann Ihnen weder das Erbe noch die Nutznießung daraus als Vermögensgewinn anlasten.“
„Wie geht es nun weiter?“, fragte Serenus.
„Ich werde die Eingabe ans Gericht vorbereiten. Wenn uns die Gegenpartei nicht entgegenkommt, reichen wir sie als Klage ein.“
„Wie teuer kommt mich eigentlich das Ganze zu stehen“, erkundigte sich Serenus?“
„Mein Honorar müssen Sie vorher bezahlen. Erst danach reiche ich die Scheidung ein. Mit einem Monatsgehalt werden Sie hinkommen. Die Gerichtskosten richten sich nach Ihren Verhältnissen, und das Gericht gibt Ihnen erst einen Termin, wenn Sie die Gebühren beglichen haben.“
„Und die Gegenpartei?“ Serenus verfiel bereits in den Slang des Anwaltes.
„Falls das ein Trost für Sie ist: Wegen des Vermögens Ihrer Ehefrau wird die Anwältin ein höheres Honorar fordern. Auch dass sie die Sache so aufwändig angeht, wird sie berechnen.“
„Sorgen Sie dafür, dass es vorangeht. Ich lasse Ihnen freie Hand. Informieren Sie mich nur, wenn es nicht nach Plan läuft.“
Der Anwalt lächelte. „Dann sehen wir uns erst vor Gericht wieder.“
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Ein halbes Jahr später begab sich Serenus im Frühling mit der Mutter auf eine Reise in die Schweiz. Nie zuvor hatte er sie so unternehmungslustig und lebenshungrig erlebt. Die letzte Kontrolluntersuchung war positiv verlaufen. Der Krebs schien vollständig verschwunden zu sein. Ihre Heiterkeit war ansteckend. Im Hotel Schweizerhof in Luzern schäkerte sie mit dem Rezeptionisten, dem Oberkellner und dem Barpianisten. Sie beobachtete das Federvieh auf dem Vierwaldstättersee und lachte Tränen über die aufgeplusterten Schwäne, die ordinären Möwen und die aufgeregten Blässhühner. Serenus wusste nicht, ob er wegen der albernen Wasservögel mitlachte oder angesichts der Freude der Mutter.
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