»Ich habe mich von der Tatsache inspirieren lassen, dass Bakterien die ältesten Lebewesen der Erde sind, die seit mindestens 250 Millionen Jahren existieren. Das wiederum bedeutet, dass jedes heute existierende Bakterium von diesen Ur-Wesen abstammt und daher eine, wenn auch noch so kleine, Information aus der Zeit der Entstehung des Lebens in sich trägt. So wie der Mensch winzige genetische Reste sowohl des Neandertalers als auch des Homo sapiens aufweist, besitzen auch Bakterien ihre eigene Ur-Information. Die müssen wir aufspüren«, wurde sie plötzlich emotional. »In der urgeschichtlichen Biomasse liegt der Code für alle Bakterien verborgen. Entschlüsseln wir ihn, können wir alle heute lebenden Mikroben nach Belieben beeinflussen.«
»Das klingt alles recht schön und gut«, wandte Henri ein, »aber wie sie selbst sagen – vorausgesetzt, ihre Annahme stimmt überhaupt – ist das ein urgeschichtlicher Code. Wie soll uns der helfen? Wir können diese Ur-Lebewesen schließlich nicht einfach rekonstruieren oder neu züchten.«
»Doch, doch«, warf Watanabe ein.
»Sie meinen wirklich, man könnte sie züchten?«
»Nein, ich meine, es gibt sie noch. In der Antarktis, tief im Eis, haben solche Bakterienarten überlebt. Das habe ich erst vor ein paar Jahren in einer amerikanischen Publikation gelesen.«
»Das ist ja grandios!« Jacqueline verlor beinahe die Fassung vor lauter Enthusiasmus. »Wir müssen unbedingt diesen Artikel finden, damit wir Kontakt mit den Kollegen in der Antarktis aufnehmen können.«
»Ich habe viele interessante Artikel gespeichert«, assistierte Watanabe. »Ich werde nachsehen, ob dieser Artikel nicht auch dabei ist.«
»Also, wenn Sie beide wirklich der gleichen Meinung sind, dann verfolgen Sie meinetwegen diese Theorie und halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich werde inzwischen mit den Assistenten meinen Plan weiterverfolgen.«
»Es kann sicher nicht schaden, mehrere Optionen gleichzeitig zu testen«, gab sich Jacqueline versöhnlich.
»Dann mache ich mich gleich auf die Suche nach dem Artikel. Kommen Sie mit mir, Jacqueline?« Watanabe machte sich auf den Weg zu seinem Arbeitsplatz, Jacqueline folgte ihm.
Henri war zufrieden. Sollten sie doch ihren Wettbewerb haben, er würde ihnen schon zeigen, was er drauf hatte. So waren die beiden wenigstens aus dem Weg, und er konnte in Ruhe seiner eigenen Idee nachgehen. Er musste Emma finden. Wenn er so weit wie möglich verdeckt arbeiten wollte, brauchte er ihre Hilfe. Emma war hier nur für ein Jahr zu Gast, dann würde sie nach Italien zurückgehen. Sie konnte also kein Interesse an Intrigen gegen ihn haben.
»Hören Sie, Emma«, begann Henri, »ich habe soeben entschieden, dass unser Team in zwei Richtungen gleichzeitig forschen wird, um die Erfolgschancen zu steigern. Frau Morin und Herr Watanabe werden sich um Plan B kümmern, während ich Plan A verfolge, bei welchem Sie mich unterstützen werden.«
Er machte eine Pause, um Emma Gelegenheit zu einer Anmerkung zu geben. Da sie ihn unverwandt und regungslos ansah, fuhr er fort. »Also ich – ich meine Sie, Mademoiselle – wir, besser gesagt, also was ich sagen will ...« Wollte sie ihn verunsichern, oder lächelte sie ihn bloß an?
»Was ich meine, Sie werden mich darin unterstützen, die Daten aufzubereiten, die Statistiken zu sichten und zu ordnen. Am besten gehen Sie gleich zu Ihren Kollegen und sehen Sie, was die schon herausgefunden haben. Und, was ich noch sagen wollte, erzählen Sie bitte nicht herum, welcher Theorie ich nachgehe, und mit welchen Methoden. Ich würde gern Diskussionen vermeiden.«
Henri vertraute mit Recht darauf, dass Emma den Technikern alles erzählen würde, und dass auch die es nicht für sich behalten könnten. Wenn alle glaubten, er sammle nur Statistiken, würde sich niemand um seine eigentlichen Pläne kümmern. Sie hatten ihn bereits jetzt unterschätzt.
»Na klar doch!«, antwortete Emma, stand auf, schob ihren Rock zurecht und stolzierte mit einer Selbstsicherheit hinaus, um die Henri sie beneidete.
Ein paar Stunden später begann Henri sich auszumalen, wie er es anstellen konnte, sich unaufdringlich einem gemeinsamen Mittagessen anzuschließen. Wen sollte er ansprechen? Er konnte wohl kaum Frau Dr. Morin fragen, »Madame, was hielten Sie davon ...«, aber bei Watanabe erschien es ihm noch peinlicher.
»Docteur, haben Sie Lust auf Mittagessen? Was halten Sie von einem Imbiss im Comptoir Buffon?« Emma sah ihn mit ihrem unwiderstehlichen Lächeln an, während sie lässig im Türrahmen lehnte. Henri hatte sie nicht kommen sehen. Er war so erschrocken, dass er ohne zu überlegen zustimmte:
»Aber gern, was für eine nette Idee. Das Lokal kenne ich noch nicht.«
»Wir haben es gestern Abend probiert, es ist richtig nett.«
Wen meinte sie mit wir , mit wem war sie abends ausgegangen? Und wie sollte er ein Mittagessen mit ihr allein über die Runden bringen? Er stand auf, und gemeinsam durchquerten sie den leeren Laborraum. An der Pforte stießen sie auf den dort wartenden Rest des Teams. Henri fiel ein Stein vom Herzen.
»Da seid ihr ja endlich«, rief Jacqueline, offenbar gut gelaunt. »Gehen wir also!«
Emma hakte sich bei Théo, dem jüngeren der beiden Assistenten, ein, und die kleine Gruppe, der sich auch drei Techniker angeschlossen hatten, machte sich auf, die Rue du Dr. Roux entlang.
»Kommen Sie, setzen Sie sich zu uns, es gibt Neuigkeiten«, lächelte ihn Jacqueline an, als sie auf der Terrasse der Brasserie Platz genommen hatte. Henri hätte lieber einen Tisch im Innenraum gewählt, die kühle Herbstluft machte sich bereits deutlich bemerkbar. Er hatte nie die Gewohnheit der meisten Pariser verstanden, bei jeder Temperatur im Freien zu sitzen. Zugegeben, die vielen Heizstrahler temperierten die Luft auch im tiefsten Winter, aber Henri war die Energieverschwendung zuwider. Kaum hatte er sich gesetzt und nach der Tafel mit den Mittagsmenüs Ausschau gehalten, begann Jacqueline freudestrahlend:
»Raoul hat den Artikel schon gefunden. Es ist wunderbar, genau, wie er gesagt hat. Deshalb konnten wir schon beginnen, ...«
»Verzeihen Sie«, unterbrach Henri, »vielleicht sollten wir erst bestellen, dann haben wir Zeit, uns zu unterhalten.«
Er rief den Kellner und bat ihn, die Bestellungen aufzunehmen; sein Organisationstalent war soeben wieder erwacht. Nachdem er allen den Vortritt gelassen hatte, entschied er sich für ein Zweigangmenü mit einem halben Dutzend Schnecken und Ratatouille provencale. Dazu bestellte er drei Flaschen Rotwein für alle – er fand es wichtig, sich in dieser Situation großzügig zu zeigen.
Jacqueline hatte ungeduldig gewartet, bis alle ihr Y-Com mit dem Gerät des Kellners verbunden und die Bestellungen aufgegeben hatten: »Also, wie gesagt, wir haben den Artikel, und Raoul macht sich heute noch daran, den Kontakt herzustellen. Gleichzeitig konnten wir schon beginnen, ein paar mathematische Modelle für die Testphase zu entwickeln. Es wird wohl besser sein, wenn wir das selbst machen, im Cloudnet gibt es noch nichts Adäquates.«
»Das klingt ja schon einmal recht spannend«, täuschte Henri Interesse vor, während er in Wahrheit beobachtete, wie eine der Technikerinnen soeben eine Suppe serviert bekam. Was hätte Louise wohl gegessen? Wahrscheinlich Huhn, sie liebte es in allen Variationen.
»Wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte er höflicherweise, obwohl seine Gedanken immer noch bei Louise waren.
»Sobald ich den Kontakt hergestellt habe«, meldete sich Watanabe zu Wort, »gebe ich Ihnen Bescheid. Ich gehe davon aus, dass wir das Ansuchen um Bakterienproben offiziell über das Institut stellen müssen.«
»Das wird so nicht möglich sein.« Der Kellner brachte die Vorspeisen, was Henris Konzentration wieder auf seine Gesprächspartner lenkte. »Wie ich gestern schon erwähnt habe, sind wir direkt dem Ministerium für Gesundheit unterstellt, das Institut Pasteur stellt nur die Räume zur Verfügung.«
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