Wenn er konkret darüber nachdachte, war die Lösung eigentlich ganz klar zu erkennen. Wenn eine Bakterienart Resistenzen entwickelte, musste man für diese Spezies ein neues Medikament entwickeln. So einfach war das. Natürlich hatten die Bakterien immer einen Vorsprung, also bestand die Aufgabe seiner Forschungsgruppe darin, die Methoden zu verbessern und vor allem zu beschleunigen – wie eine Polizeitruppe, der die Verbrecher immer einen Schritt voraus sind. Henri wollte den konservativen Weg gehen, mit Planung und Organisation, Systematik, präzisen Richtlinien und Standardmodellen.
Als er heimkam, war Louise wieder im Wohnzimmer mit der Erstellung von Listen und Vorbereitungen für ihren neuen Cloudnet-Auftritt beschäftigt. Er wollte sie nicht stören und verließ die Wohnung wieder, um das Bistro an der gegenüberliegenden Straßenecke aufzusuchen. Dort bestellte er das Mittagsgericht mit Linsensuppe und Poularde en cocotte, dazu ein Glas Rotwein. Das Hühnchen war vorzüglich, der Wein wie ein zarter Windhauch in der milden Herbstsonne, genau wie es um diese Tageszeit sein musste. Henri war versöhnt mit sich und der Welt. Seine Lösungsansätze waren überzeugend, das Team würde sie mühelos umsetzen, vor allem auf seine attraktive Kollegin hielt er große Stücke. Daheim erwartete ihn eine wunderbare Gefährtin zu einem gemeinsamen Abendessen, mit einem Wort: Er hatte seine Selbstachtung wieder gefunden.
Zurück in der Wohnung zog er sich in die Küche zurück, nahm sein Y-Com zur Hand und aktivierte den Computermodus in der Hoffnung, dessen Funktion zu ergründen.
»Wie war dein Tag?«, fragte Louise, als sie einige Stunden später in die Küche kam, um das Abendbrot vorzubereiten.
»Was hältst du davon, wenn wir zur Feier des Tages ausgehen? Wir könnten italienisch essen.«
»In der Rue Jouvenet gibt es ein neues japanisches Restaurant.«
»Noch eines? Das ist ja die reinste Inflation.«
»Ich bestelle uns einen Tisch in einer halben Stunde. So kann ich noch eine Kalkulation fertig machen.«
Henri freute sich auf die gemeinsame Zeit, obwohl er japanisches Essen nicht übermäßig schätzte. Aber wer weiß, was aus diesem Abend noch werden konnte. Eine halbe Stunde später legten sie schweigend die wenigen Schritte bis zu dem neuen Lokal zurück, wo sie den reservierten Tisch bereits vorbereitet fanden. Die Atmosphäre war gemütlich, das Essen besser als erwartet, und so entwickelte sich sogar eine Art Gespräch.
»Ich glaube, meine Rede ist gut angekommen.«
»Du hast dich ja lang genug vorbereitet.«
»Planung ist das A und O des Erfolges.«
»Ich glaube, das hast du schon einmal gesagt.«
»Heute noch nicht.«
»Wie sind deine Mitarbeiter?«
»Fähige Leute, kompetent. Ich denke, wir werden gute Arbeit leisten.«
»Eine hübsche Frau dabei?«
»Wie man’s nimmt.«
»Was soll das denn heißen?«
»Also wirklich hübsch ist sie nicht.«
»Wie alt?«
»Achtundvierzig, wenn ich mich recht erinnere.«
»Hast du sie etwa gefragt?«
»Ich habe doch ihren Lebenslauf.«
»Und die anderen?«
»Einer ist Japaner – aber das habe ich sicher schon erzählt.«
»Schon. Wie alt?«
»Vierzig. Und zwei junge Assistenten, die studieren eigentlich beide noch.«
»Also sehr üppig ist das nicht. Ich habe mir das alles etwas größer und bedeutender vorgestellt.«
»Wir kommen zurecht. Es kommt schließlich nicht auf die Anzahl der Personen an, sondern auf die Fähigkeiten und die richtigen Ideen.«
»Und wer soll die haben? Die nicht so hübsche Achtundvierzigjährige?«
»Du kannst dir wohl nicht vorstellen, dass die Ideen von mir kommen?«
»Das meinst du nicht ernst.«
»Gerade auf dem Heimweg habe ich Lösungen entwickelt, die morgen alle überraschen werden.«
»Ich bin gespannt.«
Henri stocherte unsicher mit den Stäbchen in seinem Essen. Dann fasste er einen Entschluss, um die Situation zu entspannen.
»Willst du heute mit mir schlafen?«, fragte er.
»Sei nicht albern, du weißt wieviel ich im Moment um die Ohren habe.«
»Verzeih, bitte!«
»Wofür entschuldigst du dich?«
»Ich weiß nicht.«
»Lass uns heimgehen, morgen ist auch noch ein Tag.«
»Es war schön, wieder einmal in Ruhe mit dir zu plaudern.«
»Das war es.«
Gehen wir in mein Büro«, begrüßte Henri seine beiden Kollegen, als er am Donnerstagmorgen das Labor betrat, »hier sind wir ungestört. Ich habe gestern noch einen Masterplan entworfen, der uns bei richtiger Handhabung den Weg weisen wird.«
»Welche Rolle spielt dabei meine Theorie?«, warf Jacqueline ein.
»Noch keine. Ich möchte zuerst die Rahmenbedingungen festlegen, unter denen wir arbeiten werden.«
»Aber ...«
»Haben Sie Geduld, Jacqueline«, versuchte Watanabe sie zu beruhigen, »hören wir uns doch erst das Konzept an!«
»Sehen Sie, liebe Kollegen, Planung ist das A und O jedes wissenschaftlichen Erfolges. Wir dürfen uns keinesfalls Hals über Kopf in das Projekt stürzen. Es ist doch so: Wir wissen ziemlich genau, wie die Bakterien ihre Resistenzen entwickeln, im Grunde genommen ist es immer Mutation oder Übertragung von einem auf ein anderes Bakterium. Auch für die Resistenzmechanismen gibt es schon eine brauchbare Systematik, von der Entwicklung alternativer Proteine, die Zielmutationen, die Überproduktion von Protein, und so weiter, sie kennen das ja.«
»Ich denke schon«, seufzte Jacqueline. »Und was ist jetzt der Plan?«
»Der Plan ist die Entwicklung einer Reihe von Standardmodellen, vereinfacht gesagt: Es gibt zehn bis zwölf unterschiedliche Arten, wie Bakterien eine Resistenz entwickeln können, und für jeden dieser Mechanismen müssen wir eine Gegenstrategie festlegen. Diese zehn bis zwölf Standardmodelle werden sicherstellen, dass jede neu entdeckte Resistenz auf schnellstem Wege bekämpft wird. Das Ganze ergibt eine Art Matrix aus Resistenzen und Strategien, die man benützen kann wie ein Kochbuch mit Rezepten für jede Gelegenheit.«
Henri ließ den Klang seiner Worte im Raum wirken. Für einige Sekunden war es absolut still.
»Faszinierend«, seufzte Jacqueline.
»Nicht wahr? Herr Watanabe, was halten Sie davon?«
»Hm, ja – «
»Schön, dann sind wir ja einer Meinung. Ich werde in den nächsten Tagen die Grundzüge dieser Matrix ausarbeiten, die wir dann mit unseren Daten aus der Statistik und den gesammelten Publikationen füllen können. So erarbeiten wir uns Schritt für Schritt ein Modell nach dem anderen.«
Henri hatte sich bereits erhoben und zwei Schritte Richtung Tür gemacht, als Jacqueline, die demonstrativ sitzen geblieben war, ohne sich zu ihm umzuwenden, einwarf: »Dann können wir ja jetzt auch noch über meine Arbeit sprechen.«
»Das würde mich auch interessieren«, versuchte Watanabe ihr den Rücken zu stärken.
»Wenn Sie meinen. Ich dachte nur, es wäre praktikabler, erst die Liste aller relevanten Publikationen zu erstellen und nach Themen zu ordnen, damit wir sie systematisch durchgehen können – Ihre Arbeit natürlich eingeschlossen.«
»Dann werde ich eben nur mit Herrn Watanabe darüber diskutieren. Sie werden mir doch zuhören, Raoul?«
»Selbstverständlich. Wie gesagt, ich bin wirklich neugierig, Ihre Theorie im Detail zu erörtern.«
»Na gut, dann will ich mich nicht ausschließen«, gab Henri klein bei, während er wieder Platz nahm. »Bitte, Madame, wir sind ganz Ohr.«
»Man kann es eigentlich mit wenigen Wörtern erklären«, begann sie, »in einer Fachzeitschrift muss man die simpelsten Ideen immer ein bisschen ausschmücken. Wenn es zu einfach klingt, wird es nicht ernst genommen, das wissen Sie ja selbst.«
Henri wusste es nicht, und sie hätte auf diese Bemerkung gern verzichten können. Trotzdem leuchtete ihm ein, was sie gesagt hatte.
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