Jahrelang hatte er genossen, die knapp 600 Meter zwischen seiner Wohnung und dem Krankenhaus zu Fuß zurückzulegen. Für die mehr als vier Kilometer zum Institut Pasteur im benachbarten 15. Stadtbezirk musste er eine andere Lösung finden. Seine Frau wäre mit dem Wagen gefahren. Seit sie sich vor ein paar Jahren ein Elektrofahrzeug gekauft hatte, machte sie keinen Schritt mehr zu Fuß. Henri war es noch nicht gelungen, ihr klarzumachen, dass auch Elektroautos Energie verbrauchen, die erst einmal erzeugt werden musste.
Sein eigener Wagen stand meist in der Garage, weshalb er es auch nicht für notwendig erachtet hatte, auf eine neue Technologie umzusteigen. Sein ökologisches Gewissen beruhigte er, indem er zu Fuß ging oder öffentliche Verkehrsmittel benütze. Immerhin war auch der neue Weg zur Arbeit nicht einmal halb so lang wie jener in seiner Anfangszeit am Krankenhaus Georges Pompidou, als er noch im 18. Bezirk gewohnt hatte.
Auf dem Weg zur Metrostation Chardon-Lagache machte er sich wieder einmal Gedanken darüber, ob es recht von ihm gewesen war, Louise zu dieser Wohnung zu überreden. Ihnen war von Anfang an klar gewesen, dass sie sich eine Bleibe in der Avenue Foch zumindest in absehbarer Zeit nicht würden leisten können. Die finanziellen Angebote ihres Vaters hatte Louise rundweg abgelehnt. Sie wollte sich keinesfalls von ihrer Familie abhängig machen, und Henri konnte das nur recht sein. Als Louise vorschlug, als Alternative den Stadtrand in Betracht zu ziehen, hätte Henri beinahe die Fassung verloren. Wozu war er mit so viel Mühe der Vorortgesellschaft entflohen, hatte auf seine Familie und Freunde verzichtet, um dann wieder aus der Stadt hinauszuziehen? Ihr Einwand, dass zum Beispiel Boulogne-Billancourt ein vornehmer Ort mit allerbester Gesellschaft sei, nicht zu vergleichen mit seinem elenden Noisy-le-Sec, und kaum zu unterscheiden von den nobelsten Adressen im Pariser Zentrum, hatte ihn erst recht in Rage gebracht. Es war ihm immer noch unangenehm und peinlich, mit seinen Wurzeln in Verbindung gebracht zu werden, es machte ihn klein und unbedeutend. Und außerdem, hatte er erwidert, wenn es doch kaum zu unterscheiden sei von Paris, dann könne man ja gleich hier bleiben und müsste nicht partout die Stadtgrenze überschreiten.
Vierundzwanzig Jahre lang hatte er diese Überlegungen Tag für Tag auf seinem Weg zum Krankenhaus hin und her gewälzt. Und jedes Mal war er zu der Erkenntnis gekommen, dass die Wohnung im 16. Bezirk ein hervorragender Kompromiss war. So waren sie innerhalb der Stadt, im Quartier Auteuil, einem der vornehmeren Pariser Stadtviertel, das im Westen an den Park und im Süden sogar an Boulogne-Billancourt grenzte. Und obwohl sich nur sein Weg zur Arbeit verändert hatte, dachte er auch an diesem Morgen wieder darüber nach, ob ihr Leben dadurch erneut beeinträchtigt würde. Die Strecke bis zur Metro reichte gerade aus, um zum selben Ergebnis wie in den letzten Jahren zu kommen.
Das Gedränge in der U-Bahn hinderte ihn an weiteren Gedankengängen. Als er am Institut Pasteur ankam, fand er seine Mannschaft bereits versammelt im Eingangsbereich. Der Weg zum neuen Labor war kompliziert, weshalb der Portier sie begleitete. Nun standen sie also in einer Runde mitten im Laborraum – ein ausreichend großes Besprechungszimmer für drei Wissenschaftler, drei Assistenten und sieben Labortechniker stand nicht zur Verfügung.
»Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Mitarbeiter«, begann Henri seine bestens vorbereitete Rede, »nachdem wir gestern die Formalitäten hinter uns gebracht haben, darf ich Sie heute zu unserem ersten Arbeitstag begrüßen. Wie der Herr Minister bereits auf der Pressekonferenz betont hat, liegt eine große Aufgabe vor uns. Die Problemstellung ist nicht neu, aber man erwartet von uns eine Lösung innerhalb der nächsten fünf, sechs Jahre. Allein im vergangenen Jahr sind weltweit mehr als sechs Millionen Menschen an antibiotikaresistenten Keimen verstorben. Wenn wir dieser Entwicklung nicht Einhalt gebieten können, wird die Resistenz von Bakterien über kurz oder lang die höchste Sterblichkeitsrate aller Krankheiten verursachen. Die Herausforderung ist enorm, deshalb erwarte ich vollen Einsatz, ich baue auf Ihre Professionalität und Ihre Ideen.
Wie Sie alle wissen, hat Frau Dr. Morin bereits eine bemerkenswerte Arbeit zu diesem Thema verfasst, die wir natürlich diskutieren werden. Auch Herr Dr. Watanabe ist schon geraume Zeit auf diesem Gebiet tätig. Deshalb freue ich mich besonders, dass es gelungen ist, dieses gemeinsame Potential hier zu versammeln. Wir unterstehen mit unserem Projekt direkt dem Herrn Minister für Gesundheit, wir sind also hinsichtlich der Finanzierung unabhängig vom Institut, das uns quasi nur die Infrastruktur zur Verfügung stellt. Die Regierung, beziehungsweise das Parlament, ja ich möchte sagen, das gesamte französische Volk erwartet von uns, dass wir die Lorbeeren für das erste unbesiegbare Medikament hier nach Frankreich holen. Überlassen wir das Feld nicht den USA oder Indien, wo die Forschungen auch schon weit fortgeschritten sind, wenn man den letzten Publikationen glauben darf.
Und damit bin ich bereits bei Punkt eins unseres Arbeitsplans: Wir brauchen Informationen, wir brauchen Statistiken, und zwar aus beiden Richtungen. Damit meine ich, dass wir sowohl die letzten vielleicht zwanzig Jahre hinsichtlich ihrer Veränderlichkeit analysieren müssen, also der Frage nachgehen, wie sich die Sterblichkeit entwickelt hat, sowohl quantitativ als auch qualitativ. Wir benötigen aber auch eine umfassende Bestandsaufnahme des Status quo der weltweiten Forschung. Ich weiß, dass es nicht leicht sein wird, an Daten heranzukommen, die nicht oder noch nicht publiziert sind. In dieser Hinsicht vertraue ich voll und ganz auf unsere junge Assistentin und ihre beiden männlichen Kollegen, die einer Generation entstammen, der im Cloudnet kein Trick mehr unbekannt ist. Erst wenn wir wissen, auf welchem Forschungsstand sich unsere Konkurrenz befindet, vor allem aber, wie lange sie schon vergeblich in die eine oder andere Richtung gearbeitet hat, können wir unseren eigenen Weg festlegen.«
Henri hörte sich gern reden, er hätte immer schon gern unterrichtet. Vielleicht wäre das seine wahre Berufung gewesen, aber dazu war es nie gekommen.
»Ich habe in dieser Hinsicht bereits ein Konzept zusammengestellt«, fuhr er fort, »und darf daher unsere beiden jungen Kollegen bitten, unsere Konkurrenz soweit wie möglich zu durchleuchten. Das wichtigste Forschungszentrum in den USA befindet sich auf der Militärbasis in Frederick, Maryland, in Indien hat sich die Stadt Hyderabad zu einem einzigen biologisch-pharmakologischen Forschungszentrum entwickelt. Im sogenannten ›Genome Valley‹ sind alle einschlägigen Firmen konzentriert, an deren Informationen wir herankommen müssen. Frau Morin und Herrn Watanabe möchte ich bitten, alle relevanten Publikationen der letzten zehn Jahre zusammenzutragen, während ich selbst mich um die Statistiken kümmere, was die Entwicklung der Resistenzen im Allgemeinen und die Sterblichkeitsrate im Besonderen betrifft.
Ich denke, damit werden wir die nächsten drei bis vier Wochen beschäftigt sein, sodass wir uns dann gegen Ende November in Klausur begeben können, um die Ergebnisse auszuwerten und einen Arbeitsplan für die nächsten Monate zu erstellen.
Gibt es diesbezüglich irgendwelche Fragen oder Unklarheiten? Nicht? Nun, dann lassen Sie uns an die Arbeit gehen, die Zeit drängt. Ach ja, vielleicht könnten wir uns darauf verständigen, wöchentlich einen kurzen Bericht zu verfassen, damit ich einschätzen kann, wie wir vorankommen. Danke, und gute Arbeit vorerst.«
Wie nach dem lang herbeigesehnten Schlussakkord eines zu langen Musikstückes applaudierten alle, beinahe reflexartig und ohne Enthusiasmus.
Die Techniker zogen sich in den hinteren Laborraum zurück, um die Ausstattung in Augenschein zu nehmen und die Geräte zu testen, während Henri ...
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