„Darum kümmert er sich nicht persönlich.“
Ein paar Stunden assoziierten die beiden Männer noch hin und her, aßen etwas, machten weiter, dann fragte MW beiläufig:
„Wann müssen Sie eigentlich fort?“ Der Amerikaner schlug sich erschrocken mit der flachen Hand vor die Stirn und jaulte auf; er hatte die verletzte Hand als Schlaghand benutzt.
„Sie haben recht, meine Maschine geht heute Abend. Verdammt, daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Wir wollten ja so schnell wie möglich Klarheit, ob Sie akzeptieren. Ich muss mit Blunt sprechen, die Nichte notfalls überreden.“ Er sah auf die Uhr. „In vier Stunden geht mein Flieger, das schaffe ich niemals.“, meinte er resignierend.
„Von wo fliegen Sie?“
„Rammstein.“ MW schmunzelte.
„Das schaffen wir.“, behauptete er.
„Das sind doch dreihundert Meilen, oder so.“, veröffentlichte Browne Zweifel.
„Wir nehmen das ulkige Auto.“
„Da waren wir doch gestern essen.“ Browne wies erstaunt aus dem Fenster.
„Korrekt.“
„Das sind ja nur ein paar hundert Meter; mir kam das gestern viel weiter vor.“ MW schwieg.
Obwohl er zweifelte, dass sie es rechtzeitig schaffen würden, war Browne zunächst guter Dinge und plapperte munter vor sich hin. Etwas ruhiger wurde er, als sie die Autobahn erreichten, um vollends zu verstummen, als die Anzahl der Verkehrsteilnehmer sank, die Besiedelung lockerer wurde und MW dem ulkigen Auto die Sporen geben konnte.
Browne hatte vorsichtshalber die Augen geschlossen, so dass er ein interessantes Phänomen, das auf deutschen Autobahnen eher selten anzutreffen ist, nicht mitbekam: MW fuhr immer auf freier Strecke. Hatte er langsamere Fahrzeuge vor sich, wechselten die alsbald die Spur und ein Blick in die Gesichter der Fahrer hätte Browne erkennen lassen, dass die dies nicht freiwillig getan hatten und, vor allen Dingen, nicht wussten, warum sie es getan hatten. So allerdings entging dem Amerikaner dieses, einem Naturereignis gleichkommende, Geschehen und Verhalten und MW hatte keinerlei Interesse, seinen Fahrgast darauf aufmerksam zu machen.
Während Browne also immer grauer wurde und verbissen schwieg, steigerte sich MW’s Laune, was sich aber nicht durch einen verbalen Mitteilungsdrang oder das Pfeifen von Liedchen oder Melodien äußerte, höchstens einem zufriedenen Lächeln hätte man dies entnehmen können, aber das entging Browne, weil der sich zu visueller Reizaufnahme nicht in der Lage sah.
Als MW den Wagen vor dem ersten Tor der US-Luftwaffenbasis stoppte, hörte er ein Ächzen neben sich. Der schwarze Mann war ganz grau geworden.
„Sie sehen schlechter aus als heute Morgen.“, bemerkte MW trocken. Als Antwort hörte er heftiges Atmen. „Wir sind übrigens da, sie können die Augen wieder aufmachen.“
„Mmmpffff.“
„Wie bitte?“
„Ich glaube, ich bin noch nie so schnell gefahren.“, flüsterte der Graue.
„Die Startgeschwindigkeit eines Flugzeuges …“, begann MW mit einer Belehrung, wurde aber unterbrochen.
„Ich meine, in einem kleinen Auto auf öffentlichen Straßen.“ Browne klang schrill.
Wortlos kletterte der Amerikaner mit weichen Knien aus dem Auto und schwankte zum Heck, wo MW ihm die Kofferraumklappe öffnete. Browne atmete ein paar Mal tief durch und sah MW an.
„Ich melde mich, sobald ich mit der Nichte gesprochen habe.“
„Okay. – Übrigens, ich finde, wir sollten uns duzen.“ Brownes Gesicht hellte sich auf, endlich würde er einen Namen erfahren. Er reichte dem Deutschen die Hand.
„Jackson.“ MW ergriff mit einem Lächeln Jacksons heile Rechte.
„MW.“ Jacksons Lächeln erstarb. Im Fortgehen drehte sich MW noch einmal um und rief dem enttäuschten Schwarzen zu: „Grüß Michelle, falls du sie siehst.“
„Welche Michelle?“
„Die Gattin deines Präsidenten.“
Mit hängenden Mundwinkeln sah Jackson dem fortfahrenden MW nach.
„Ich möchte wissen, mit wem Jackson in den nächsten Stunden telefonisch Kontakt aufnimmt.“, raunte MW in das Telefon.
„Welcher Jackson?“
„Jackson Browne.“
„Ach, der. Ich dachte, es ginge um diesen Hit von Johnny Cash.“, kicherte eine merkwürdige Frauenstimme. Sie sollte sich mal die Stimmbänder operieren lassen, dachte MW.
„Bitte.“
„Okay.“
Am übernächsten Morgen ging vor der Zeit das Telefon, entsprechend war MW’s Laune.
„Hi.“, hörte er aus dem Gerät. Ein Amerikanisch sprechender, schwarzer Mann, dachte er.
„Kaum bist du zu Hause, hast du schon alle Regeln der Höflichkeit vergessen, was?“, raunzte MW.
„Wieso?“, fragte Jackson entrüstet zurück.
„Schon mal was von Zeitzonen gehört? – Außerdem wolltest du erst anrufen, wenn du mit der Nichte gesprochen hast. Hast du?“ Schweigen, das MW, zum Vorteil von Jackson, als Verlegenheit auslegte, seine Wut aber nicht milderte. Dazu trug auch nicht bei, dass Jackson nicht mit einer Antwort auf seine Frage aufwartete.
„Ich habe herausgefunden, wie du heißt.“ In Jacksons Stimme schwang Siegesgewissheit mit, aber MW schmunzelte spöttisch.
„Aha. Und deshalb rufst du mich mitten in der Nacht an?“
„Martin Winterkorn.“, erklang es triumphierend aus dem Gerät. Jetzt musste MW trotz der frühen Uhrzeit doch lachen.
„Hast dir das Melderegister vorgenommen, was? Check es in ein paar Stunden noch einmal.“
„Wieso?“
„Mach es einfach.“
„Na gut. Was die Sache mit Blunt angeht …?“
„Du hast noch nicht mit ihr gesprochen, aber mach es bald.“
„Ich frage jetzt nicht, woher du das weißt, ist das richtig?“, fragte Jackson vorsichtig und fast hoffnungslos.
„Wenn du kein ganz mieses Gefühl bekommen willst, ist das richtig.“
„Was?“
„Nicht zu fragen. “
Ein paar Stunden später war unter der Adresse MW‘s ein Michael Westhofen gemeldet.
Der Schwarze lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. Jackson Browne hatte alles getan. Fast alles. Er hatte diesen MW für den Fall interessiert. MW war zwar kein Kriminalist, wie er selbst gesagt hatte, aber er hatte durchaus Interesse an diesen Dingen, und seine Ideen hinsichtlich des Serienmörders hatten etwas, das gaben selbst die professionellen Ermittler zu. Aber MW hatte noch nicht zugesagt, den Auftrag zu übernehmen; hierzu müsste Jackson bei Emmy Blunt Schönwetter machen, und das war nicht so einfach, wenn nicht unmöglich. Er sah nur eine Möglichkeit, sie zu bewegen, wenigstens einmal daran zu denken, sich schützen zu lassen: sie mit dem Schicksal Misty Stones zu konfrontieren. Sie wusste zwar ungefähr, was passiert war, aber er musste ihr vor Augen führen, dass sie in derselben Gefahr schwebte. Er brauchte einen Plan. Er brauchte auch einen Plan, um MW enttarnen zu können. Das war zwar eher eine persönliche und private, eine sportliche Herausforderung, aber er hatte diesen Mann nun einmal kennengelernt und blickte überhaupt nicht mehr durch. Dass jemand seine Identität verschleiert, damit konnte Browne umgehen, das passierte in manchen Kreisen. Aber dass niemand sagen konnte, wie MW seine Heldentaten vollbracht hatte, machte ihn stutzig. Wurde MW einfach gnadenlos überschätzt? Andererseits war da die Sache mit der
Schublade …
Er hat mit Katzen und Bären gesprochen. Jackson musste lächeln. Oder hatte er die Tiere, die Einbrecher, die Attentäter … beeinflusst? Browne schüttelte den Kopf. Er hatte einfach zuviel Fantasie. Übersinnliche Kräfte gehörten in das Reich der Märchen und science fiction.
Kannte MW Michelle Bama? Wieso ließ er Grüße an sie ausrichten? Sicher konnte er ihr am Rande von irgendwelchen Konferenzen begegnet sein. Es half nichts.
Er griff zum Telefon und wollte gerade Emmy Blunt anrufen, als das Gerät sich meldete.
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