Reiner W. Netthöfel - Tanja liest

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Personen mit Lese- und Rechtschreibschwäche kann heutzutage geholfen werden, erwachsenen wie heranwachsenden. Es gibt Therapien, es gibt Vereine, Selbsthilfegruppen, und auch die Schulen sollten in der Regel auf solche Problematiken eingestellt sein.
Ich habe das anders erlebt, und das ist noch gar nicht so lange her. Es begab sich nämlich zu meiner eigenen Grundschulzeit, da ließen Lehrpersonen die mühsamen Elaborate klassenöffentlich verlesen – ohne Rücksichtnahme auf die Psyche der armen Kinder.
Das Erlebte ließ mich nicht los, und bevor es völlig verblasst, entschloss ich mich, eine Geschichte darum herum zu schreiben. Es geht nicht in erster Linie um Legasthenie, darüber ist schon viel geschrieben worden, aber die damaligen Ereignisse bilden den Ausgangspunkt.
Die Heldin der Geschichte befindet sich zu deren Beginn am unteren Ende der gesellschaftlichen Skala, während ihr alter Schulkamerad Roger am genau entgegengesetzten Pol sich befindet.
Zufällig treffen sie sich nach vielen Jahren wieder und – wie sollte es anders sein? – verlieben sich ineinander.
Doch beide haben Geheimnisse voreinander: Tanja versucht, ihr Handicap und ihre bei ihr lebende Nichte vor Roger zu verbergen, und Roger fürchtet, dass sein Reichtum und seine Macht Tanja verschrecken könnte. Beide ahnen nicht, dass ein fünfjähriges Mädchen gleichzeitig Tanjas Nichte und Rogers Freundin ist.
Nachdem das dann klar ist, erlebt Tanja, was ökonomische Macht und ein starker Charakter so alles bewirken können: ein Parteitag einer ehemals linken Partei jubelt Roger zu, eine Landesregierung zerbricht an seinem Willen und die Kanzlerin muss um ihre Macht fürchten. Doch Tanja scheut die Verantwortung, die Roger ihr gerne in seinem Wirtschaftsreich überließe, bis Roger einer rätselhaften Krankheit anheimfällt.
Durch diesen Umstand greift sie in die Weltenläufte ein und findet endlich die Rolle, die ihr zusteht.

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Text: Copyright by Reiner W. Netthöfel

Umschlaggestaltung: Copyright by Reiner W. Netthöfel

Verlag: Reiner W. Netthöfel

Oststr. 13

44534 Lünen

paliopily@googlemail.com

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Tanja liest

Die Frau erwachte schweißgebadet, wie so häufig. Wie fast immer. Ihr Gesicht war ganz nass, wie so häufig, wenn sie nachts erwachte. Wie fast immer. Die Nässe auf ihrem Gesicht war zwar auch salzhaltig, war aber kein Schweiß. Wie fast immer. Doch diesmal war sie nicht von ihren eigenen Schreien, ihrem eigenen Weinen aufgewacht, wie sonst fast immer, wenn sie von der dunkelhaarigen Frau mit der großen Nase geträumt hatte, die ihr fast jede Nacht zuraunte, dass es ihr ja leider nicht mehr erlaubt sei, ihr ihre Rechtschreibfehler und die verunglückte Grammatik aus dem Leib zu prügeln, oder sie davon geträumt hatte, dass wieder einmal die ganze Klasse sie ausgelacht hatte, weil ihre Aufsätze oder Diktate, die die Frau mit der großen Nase öffentlich vorlesen ließ, wegen der vielen Fehler schlichtweg nicht verstanden werden konnten, sondern von dem Weinen des Kleinkindes, das neben ihr in einem einfachen Kinderbett lag. Bestimmt aber war die Kleine von den Schreien und dem Weinen der Frau aufgewacht. Der Mond schien durch das vorhanglose Fenster, so dass die Frau kein Licht zu machen brauchte, um das Mädchen zu sich herüberzuholen und es zu beruhigen. Bald darauf schlief die Kleine an ihrer Seite wieder ein.

So ginge das jedenfalls nicht weiter; nicht jede Nacht könnte sie dafür verantwortlich sein, dass der Schlaf ihrer Nichte gestört wurde. Aber die Frau wusste nicht, wie Träume zu besiegen wären.

Der Mann in dem schwarzen Anzug, dem weißen Hemd mit der silbernen Krawatte und der randlosen Brille verbeugte sich für europäische Verhältnisse ein wenig zu tief und zu lange. Weil das Blitzlichtgewitter ihn blendete, hatte er die Augen geschlossen. Er wusste, dass er sie sehr bald nie wieder öffnen würde. Dann setzte er sich umständlich an den kleinen Tisch mit einem Mikrofon. Der Tisch stand ziemlich einsam auf einer großen Bühne, die von schwarzen Vorhängen gesäumt wurde. Er räusperte sich und ruckelte an seinem Krawattenknoten. Im fernen Europa grinste ein anderer Mann die Mattscheibe eines Fernsehgerätes.

„Ich bedaure zutiefst Ihnen mitteilen zu müssen, dass unsere Firma nun zu Wulvsen Industries gehört.“, erklärte der Japaner mit brüchiger Stimme. „Es ging nicht anders. Herr Doktor Wulvsen war … zu überzeugend.“ Der Mann schluckte einen dicken Kloß hinunter, weil er nicht nur eine Kehrtwende in der Unternehmensgeschichte zu erklären hatte, sondern auch sein persönliches Scheitern und das Ende einer Unternehmenskultur. Dann fing der Japaner lautlos zu weinen an.

„Dieser Idiot mit seinem Kamikaze-Wahn!“, schrie der Mann mit den ergrauenden Haaren seine Sekretärin an. „Man muss sich wegen des Wechsels von Eigentumsverhältnissen doch nicht gleich umbringen! Schicken Sie mir den zuständigen Abteilungsleiter. Und dann brauchen wir ja wohl so eine Art Presseerklärung.“

„Wir haben aber keine Pressestelle.“, wandte die Sekretärin ein. Der Mann machte eine energische Geste.

„Aber unsere Dependance in Japan hat eine. Die Erklärung wird mit mir persönlich abgestimmt. Ich rufe dann mal den japanischen Premierminister und den Tenno an. Machen Sie mir eine Leitung, werde denen mal klarmachen, dass wir nicht mehr im Mittelalter leben.“ Dann verschwand der Mann in seinem ‚Hölle‘ genannten Büro.

Die Sekretärin tat, was ihr aufgetragen worden war. Sie gab die Order des Alten an die japanische Dependance weiter und verband ihn mit dem japanischen Regierungschef, wie schon so häufig.

Die Verbindung mit dem japanischen Kaiser war dann ein ganz klein wenig komplizierter herzustellen.

„Wer möchte mit dem Tenno sprechen?“

„Doktor Roger Wulvsen.“

„Und wer ist dieser Dr. Roger Wulvsen?“ Die Sekretärin setzte ein siegesgewisses Lächeln auf.

„Dr. Roger Wulvsen ist der alleinige Inhaber von Wulvsen Industries, wenn Sie verstehen.“ Die Sekretärin hörte eine ganze Weile überhaupt nichts. Dann hörte sie ein Räuspern, und dann eine sehr belegte Stimme:

„Entschuldigung. Vielmals. Ich bin neu. Selbstverständlich ist Seine Hoheit für Herrn Doktor Wulvsen zu sprechen.“

Dass Wulvsens wirtschaftliche Transaktion und die mortale Reaktion darauf keine diplomatischen Verwicklungen nach sich zogen, lag nicht etwa an telefonischen Beschwichtigungen, denn er war auch hier sehr direkt geworden und hatte aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht, hatte sowohl dem Regierungschef als auch dem Kaiser erklärt, dass der Wechsel eines großen, japanischen Konzerns in den Besitz Wulvsens etwas völlig Normales wäre und noch lange kein Grund, sich etwas anzutun, schließlich würde der Konzern nicht zerschlagen, niemand verlöre seinen Arbeitsplatz und so weiter, und man solle doch, bitte sehr, endlich in der Moderne ankommen, sondern hatte einfach mit den vielfältigen wirtschaftlichen Beziehungen von Wulvsen Industries mit dem Inselstaat zu tun, bei denen Wulvsen an einem ziemlich langen Hebel saß.

„Das kann er doch nicht machen!“, rief die Frau und drehte sich um. Sie stemmte die Hände auf die Spüle und atmete schwer.

„Doch, kann er.“, erwiderte ihr Mann gepresst und gab damit preis, dass er sich mit seiner fristlosen Entlassung abgefunden hatte. „Ich habe einen schwerwiegenden Fehler gemacht, und in solchen Fällen sehen die Arbeitsverträge eine fristlose Kündigung vor.“ Seine Frau fuhr wieder herum und ihr Gesicht drückte Wut und Enttäuschung aus. Und Hoffnungslosigkeit.

„Jeder hat eine zweite Chance verdient. Jeder. Der Alte ist doch noch relativ jung, der ist doch nicht so ein verknöcherter Griesgram. Der hat doch sogar so was Soziales studiert, der …“

Ihr Mann lachte kurz und freudlos auf und unterbrach sie damit.

„Er ist promovierter Sozialwissenschaftler, ja. Aber er leitet auch den weltgrößten Konzern, da bleibt für Sozialromantik kein Platz. Sagt er jedenfalls, und vielleicht hat er sogar recht damit. Wer solche Fehler macht wie ich, der fliegt, so ist das nun mal. Außerdem hatte er mich gewarnt.“ Er vergrub das Gesicht in seinen Händen und sprach leise weiter. „Ich kann noch froh sein, dass er mir nicht den Kopf abgerissen hat.“

„Verdammt! Er hat recht gehabt! Wie hatte er das wissen können? Das ist ein Ding der Unmöglichkeit!“, schrie der Mann und raufte sich die Haare, denn schließlich ging es um seine Existenz und die seiner Mitarbeiter. So meinte er jedenfalls.

„Bei Wulvsen gibt es nichts Unmögliches.“, raunte sein Prokurist wissend.

„Herr Iding, wollen Sie schon gehen?“ Der kleine, bärtige Mittdreißiger stand etwas mühsam auf und wendete sich einem etwa Sechzigjährigen zu, der neben ihm stehengeblieben war. Der Bartträger wirkte nicht mehr ganz nüchtern. Andere Mittdreißiger sahen unterschiedlich interessiert zu ihnen herüber, und das waren durchaus einige, denn der kleine Saal beherbergte fast ausschließlich Mittdreißiger beiderlei Geschlechts und eine Handvoll älterer Herrschaften, und das lag daran, dass es sich bei der Gesellschaft um ein Klassentreffen handelte. Genauer gesagt traf man sich, um dem fünfzehn Jahre zurückliegenden Abitur zu gedenken.

„Tja, Frank, das Alter macht sich allmählich bemerkbar. Es war aber schön, Sie haben das wunderbar organisiert. Nur schade, dass Roger nicht kommen konnte.“ Dieses Bedauern konnte zwar Frank, nicht aber einige andere der Anwesenden teilen.

„Finde es gar nicht schade, dass Roger nicht hier ist.“, raunte einer der anderen Mittdreißiger.

„Genau, der würde einem nur die Schau stehlen, vor allem bei den Mädels.“, pflichtete ein weiterer bei und dachte dabei an sein Pferd, seine Yacht und sein Haus.

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