Reiner W. Netthöfel - Der Andere

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Magnus Montanus hat gute Gründe, mit seinem Alter hinter dem Berg zu halten, und einer davon ist sein Alter selbst. Das ändert sich, als er zum ersten Mal seine fünfjährige Tochter trifft, die er vor einem Vierteljahrhundert quasi mit deren Großmutter gezeugt hatte. Die Großmutter trifft ihn dann auch nackt unter der Dusche und erinnert sich an ihn. Etwas problematischer ist ein hartnäckiger Familienchronist, der seine Vermutungen bestätigt sehen kann, eine indianische Historikerin, die ihre Hypothesen schließlich übertroffen sieht und ein cleverer Kriminalist, der sich zunächst einmal gar nicht für Montanus' Alter interessiert. Auf Montanus wird aber auch ein geheimer Geheimdienst aufmerksam, was nicht schön ist. Dass die Kanzlerin temporär zur Diebin wird, macht nichts, was ein übergroßer Künstler aber anders sieht. Anders sieht am Ende dieser Geschichte aber die Welt aus.

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Der Andere

Reiner W. Netthöfel

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2014 Reiner W. Netthöfel

ISBN 978-3-7375-2315-8

1.

Worauf hatte sie sich da eingelassen? Sie saß in diesem winzigen, stickigen Hotelzimmer, das sie bezogen hatte, nachdem sie den Schlüssel von einem sie unverhohlen lüstern betrachtenden Kellner, einem alterslosen Kerl mit schütterem Haar, entgegengenommen hatte, und fühlte sich verzweifelt. Hätte nicht jemand anderes diese Reise antreten können? Der Familienrat hatte beschlossen, dass es an der Zeit sei, das Problem ein für allemal zu lösen, dass der Zeitpunkt jetzt gekommen wäre, den Schleier zu lüften, den Schleier, der über Ereignissen lag, die die Geschichte ihrer Familie entscheidend geprägt hatten und die, so schien es, mit einer bestimmten Person zusammenhingen, so unglaublich das klang. Mit einer einzigen Person.

Holly öffnete den Koffer und räumte ihre Sachen in den einzigen Schrank, über den dieses Zimmer verfügte. Ihre Tochter Stefania fehlte ihr schon jetzt, einen Tag nach ihrer Abreise. Schon nach dem Start des Flugzeuges in New York waren ihr Zweifel gekommen. Zweifel an der Richtigkeit ihres Tuns, Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung, Zweifel an den Schlüssen, die aus den vorliegenden Indizien gezogen worden waren.

Sie zog sich aus und betrat das Bad, in dem sie sich kaum drehen konnte, deponierte ihre Toilettsachen auf einer schmalen Ablage über dem kleinen Waschbecken und stellte die Dusche an. Wenigstens die funktionierte tadellos. Sie ließ das warme Wasser über ihren schlanken, braunen Körper laufen und schloss die Augen.

Es war irrwitzig; wie konnten erwachsene Menschen nur so etwas annehmen? Sie waren einfach zu fantasiebegabt. Zu glauben, dass … Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende. Schließlich hatte sie selbst dem allen auch nicht Einhalt geboten. Alle waren wie besoffen gewesen von der Aussicht, endlich Licht ins Dunkel zu bringen. Alle, außer Mom.

Mit dem zu harten Badetuch trocknete sie sich ab, brachte ihre Kurzhaarfrisur in eine ordentliche Unordnung, legte dezentes Makeup auf und betrat wieder das Zimmer. Auf ihrem schmalen Bett lag die Mappe. Die Mappe mit einer Kurzzusammenfassung der Geschehnisse, die sich in den letzten hundertfünfzig Jahren ereignet hatten. Ereignet haben sollten. Die Mappe mit den ersten Zeichnungen, den undeutlichen Zeitungsfotos aus dem letzten Jahrhundert und schließlich den aktuellsten Fotos und einer Biografie des Mannes, den sie morgen aufsuchen würde. Biografie, pah. Wenn das, was sie sich zusammengereimt hatten, sich zusammenfantasiert hatten, nur halbwegs stimmte, war diese Biografie nichts wert. Nichts wert, weil unvollständig. Nicht nur lückenhaft, sondern sie ließ die längste Zeit des Lebens dieses Mannes einfach aus, als wenn es sie nicht gegeben hätte. Falls ihre Annahmen stimmten. Falls.

2.

Tom glaubte zu ersticken. Es war unerträglich heiß und stickig in dem Loch, in dem er seit Tagen hockte und wo ihn völlige Dunkelheit umgab, so dass er manchmal noch nicht einmal feststellen konnte, wo oben und wo unten war. Als sie ihn hier hineinsteckten, hatten sie ihm einen Eimer Wasser und ein Stück Brot vor die Füße geworfen, wobei ein Teil des Wassers über den Rand geschwappt war. Das Brot hatte er gegessen, aber von dem Wasser war noch ein Rest vorhanden, er wusste ja nicht, wie lange sie ihn noch hier sitzen lassen würden.

Das Loch war quadratisch und hatte eine Kantenlänge von etwa einem Meter. So hoch war es auch ungefähr. Vielleicht ein wenig höher. Der Boden bestand aus harter Erde und die Seiten aus Brettern. Die Decke bildete eine Klappe aus schwerem, hartem Holz, die er nicht aufstemmen konnte, da sie verriegelt war. Anfangs hatte er seine Umgebung abgetastet, was aber, angesichts der beengten Verhältnisse, schnell erledigt war. Dann hatte er körperliche Bewegungen nahezu eingestellt, weil es, erstens, keinen Zweck hatte, und zweitens, weil er mit seiner Energie haushalten musste. Nur ab und zu zuckte er zusammen, wenn etwas über seine nackten Füße huschte, wobei es sich meistens um Insekten handelte, denn Säugetiere fanden keinen Spalt, um hier herein zu gelangen. Tom wunderte sich, warum er nicht längst erstickt war.

Er dachte auch nicht viel nach, es hatte einfach keinen Sinn. Nachdenken konnte an seiner Lage nichts ändern. Er selbst trug keinerlei Schuld daran. Es war eben so. Es war so vorgesehen. Auch seine Zukunft hatte er nicht in der Hand, die lag in den Händen anderer, die er noch nicht kannte. Sein Leben war bisher immer fremdbestimmt gewesen, und daran würde sich jetzt und in Zukunft nichts ändern. Er kannte es nicht anders.

Allerdings wanderten seine Gedanken immer wieder zu Sarah, die in einem ähnlichen Loch saß wie er, deren Lebensumstände seinen bis aufs Haar glichen und die einem ähnlichen Schicksal entgegensah.

Tränen stiegen ihm in die Augen und sein Herz krampfte zusammen, wenn er daran dachte, dass sie getrennt werden würden. Sie kannten sich ihr Leben lang, sie waren miteinander aufgewachsen, hatten viel Schreckliches und einiges Schöne in dem Schrecklichen erlebt und waren sich einig, dass sie eine gemeinsame Zukunft haben wollten.

Doch diese zaghaften und naiven Pläne waren durch den Tod der alten Salinger zunichte gemacht worden. Jetzt war alles offen. Es war nicht damit zu rechnen, dass sich jemand ihrer beider annehmen würde. Nicht in diesen Zeiten, das wusste selbst Tom.

Sie hätten nicht das Recht, zusammenzubleiben, das war so. Ihresgleichen hatten überhaupt keine Rechte, sie waren abhängig von den Launen und der Gutmütigkeit oder dem Sadismus der anderen, die die Herren waren. So war es, und so würde es bleiben.

Seit der alte Salinger beim Füttern der Hühner ums Leben gekommen war, war es bergab gegangen. Die Farm verlotterte und die Witwe musste nach und nach allen Grund und Boden und fast alles Inventar und Vieh verkaufen. Nur Sarah und Tom hatte sie behalten.

Der Alte war in den Hühnerstall gegangen und hatte Futter ausgestreut, wobei er rückwärts ging. Dabei war er auf eine Harke getreten, deren Stiel in seinen Nacken geschlagen war. Durch den Schrecken verlor er das Gleichgewicht und stürzte rücklings in das einzige Fenster des Stalls. Dumm war, dass er sich im Fallen umdrehte, mit dem Gesicht durch die Scheibe schlug und sich an den stehen gebliebenen Scherben die Kehle aufschlitzte. Die Hühner waren froh über den rotbraunen Überzug, den die Maiskörner durch das umherspritzende Blut bekamen, und der eine Abwechslung in dem täglichen Einerlei der Nahrungsaufnahme bedeutete.

Die Witwe, so raunten die Nachbarn, sei an ihrer schlechten Laune gestorben, weil sie sich selbst nicht leiden konnte. Hätte Tom gewusst, was die Nachbarn tuschelten, hätte er es nur bestätigen können, doch niemand fragte ihn.

Missmutig und krumm hockte der Mann auf seinem Pferd, das bei genauerem Hinsehen manchem Zeitgenossen wegen seiner etwas ausgefallener Aufzäumung aufgefallen wäre. Er war auf dem Weg nach Norden, was ihm einerseits nicht schnell genug gehen konnte, andererseits sah er keine Veranlassung, im Galopp dahinzustürmen. Einige Wochen war er nun hier im Süden unterwegs, und er war davon nicht gerade erbaut. Die Sklaverei machte ihn wütend, die frömmelnden Weißen machten ihn wütend, die sonntags in die Kirchen strömten, um danach ihr schwarzes Eigentum aufs Grausamste zu misshandeln.

Trotz der Wirren, die der Krieg auch in die Zivilgesellschaft hineingetragen hatte, fühlte er sich nicht unsicher, und zu diesem Gefühl trugen einige Ereignisse, die sich ein paar Jahre zuvor im Norden abgespielt hatten, entscheidend bei. Seit damals war er gewiss, dass ihm nichts passieren könnte.

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