„Nein, aber ich weiß es trotzdem. Ich weiß zum Beispiel auch, dass es auf der Sonne heiß ist, ohne dort gewesen zu sein. Machen Sie weiter.“
„Die Dame ist, äh, etwas schwierig.“
„Dann suchen Sie sich einen Erzieher, für die Bändigung von schwierigen Kindern bin ich nicht zu haben.“
„Sie ist kein Kind mehr.“, streute Browne eine von ihm geglaubte Wahrheit.
„Eine schwierige Fünfundzwanzigjährige ist wie ein Kind.“, belehrte ihn MW.
„Aha. Sie wuchs ohne Eltern auf und war recht flatterhaft. Hat geklaut, Gras geraucht, sich geprügelt. Beamtenbeleidigung und so weiter. War in allerlei Straßengangs. Kein unbeschriebenes Blatt also. Vorstrafen. Setzte sich mit achtzehn in den Kopf, Pornodarstellerin zu werden, was sie dann mit einundzwanzig auch wurde. Vorher war sie so eine Art Aktmodell. Hatte bereits mit vierzehn regelmäßigen Geschlechtsverkehr, mit stetig wechselnden Partnern. Na ja, so absurd sich das anhört, dieser Pornojob regelte ihr Leben. Sie musste früh raus, hatte Verpflichtungen, musste fit sein, musste auf ihre Gesundheit achten. Sie war so eine Art Shootingstar in dem Metier. Ihr Name ist Emmy Blunt.“ MW fiel eine Frage ein.
„Geschlechtskrankheiten?“ Browne schüttelte den Kopf.
„Erstaunlicherweise nicht. Kein HIV.“
„Seit wann kümmert sich die US-Regierung um gefallene Mädchen? Ist das ein neues Sozialprogramm oder so etwas?“
„Natürlich nicht. Der Onkel dieser Dame ist eine sehr hoch gestellte Persönlichkeit.“, erklärte Browne verschwörerisch mit gesenkter Stimme und fühlte sich von MW’s forschendem Blick durchleuchtet. MW legte einen Zeigefinger auf die Mappe.
„Ist sie schwarz?“ Browne war irritiert. Sollte MW farbenblind sein? Dann wäre er eigentlich für den Job nicht geeignet.
„Sie sehen, doch, dass sie rot ist.“ Jetzt war es an MW, irritiert zu sein.
„Eine Indianerin?“, fragte er erstaunt.
„Wer?“, wollte Browne verblüfft wissen.
„Die Frau.“
„Nein.“. meinte Browne bestimmt.
„Sie sagten, sie sei rot.“
„Ich meinte die Mappe.“
„Verdammt, Browne! Welche Hautfarbe hat die Dame?“, jaulte MW und sah an die Decke.
„Ich würde es ein mittleres Dunkelbraun nennen.“
„So wie Sie?“
„Ähnlich.“
„Also schwarz. Ich muss mal.“ MW stand auf und verließ den Raum.
Im Waschraum fingerte er sein Telefon aus der Tasche und gab eine Nummer ein, die nur er kannte. Nahm er jedenfalls an.
„Ich bins. Kannst du schnell herausfinden, ob der US-Präsident eine etwa fünfundzwanzigjährige Nichte namens Emmy Blunt hat? Schick eine sms.“
„Wie schnell?“, fragte seine Partnerin routiniert.
„Sofort!“ MW beendete das Gespräch. Sie klingt irgendwie verschnupft, dachte er.
„Na, geht’s Ihnen jetzt besser?“, grinste Browne und schlürfte seinen Kaffee. MW orderte Bier, nachdem er die Frage souverän ignoriert hatte.
„Wie schmeckt Ihnen das Bier?“, wollte er von dem Amerikaner wissen.
„Besser als der Kaffee.“, gab der zu, bereute das aber sofort.
„Dann sollten wir bei Bier bleiben.“, schlug MW nämlich vor, das dann auch bald kam. MW’s Handy kündigte eine Mitteilung an, die er mit ausdruckslosem Gesicht las, dann sah er ebenso sein Gegenüber an. In solchen Momenten könnte er jedes Pokerspiel gewinnen.
„Okay, Mr. Jackson Browne, was habe ich mit der gefallenen Nichte des US-Präsidenten zu tun?“ Browne verschluckte sich am Bier und rang nach Luft.
„Welcher Präsident?“
„Tun Sie nicht so. Ihr Präsident. Emmy Blunt ist seine Nichte, und um die geht es ja wohl.“
„Woher …“ Browne wurde durch eine harsche Geste am Weiterfragen gehindert.
„Lassen Sie es gut sein, Browne. Sie wissen, dass Informationsbeschaffung zu meinen Stärken gehört, wenn Sie meine Referenzen aufmerksam studiert haben.“
Es brauchte eine Weile, bis sich Browne wieder beruhigt hatte, dann traf er die Feststellung: „Mrs. Blunt hat nicht nur Freunde.“ MW lehnte sich pustend zurück.
„Ach was. Jemand, der Polizeibeamte beleidigt, an Kämpfen zwischen Straßengangs beteiligt ist, stiehlt und was sonst noch, hat nicht nur Freunde?“, höhnte er. Browne schüttelte den Kopf und wurde ernst.
„Bei ihr ist eingebrochen worden. Zwei Mal. Auf jeden Fall hat sich jemand Zutritt zu ihrem Appartement verschafft. Keine Spuren. Beim ersten Mal hat der Täter zwei Silikonattrappen weiblicher Brüste hinterlassen. Sie waren zerhackt. Beim zweiten Mal ein Modell einer Vagina mit einem Messer drin.“ MW’s Miene war immer noch unbewegt.
„War wohl ein heimlicher Fan?“, äußerte er einen Verdacht. Browne verzog das Gesicht vor MW’s Sarkasmus.
„Seit ihr Onkel Präsident ist, ist sie raus aus dem Geschäft.“ MW schaute skeptisch.
„Aber die Fotos und Filme gibt es doch wohl noch?“
„Sicher. Es ist nicht auszuschließen, dass es ein durchgeknallter Fan war. Das ganze scheint aber noch einen anderen Hintergrund zu haben. Die Attrappen waren schwarz.“ MW wirkte jetzt ganz leicht irritiert, was Browne heimlich freute.
„Wie?“
„Die Hautfarbe.“, erklärte der Amerikaner nachsichtig.
„Ein rassistischer Hintergrund?“ Browne nickte.
„Hinzu kommt eine Serie von bestialischen Morden an schwarzen Prostituierten, Pole-Tänzerinnen, Stripperinnen, Pornodarstellerinnen, nicht nur in Florida, sondern überall im Lande, vorzugsweise im Süden. Die Leichen waren grausam zugerichtet.“
„Zerfetzte Brüste und Vaginen?“
„Ja. Zudem rassistische Symbole. Brennende Kreuze.“
„Der Klan?“
„Möglich. Auf jeden Fall gibt es keinerlei Spuren, nichts. Das letzte Opfer war eine Bekannte Emmys aus der Branche, die in heller Aufregung ist. Verstehen Sie jetzt, warum die Regierung sich um das gefallene Mädchen kümmert?“
„Annähernd. Bestimmt aber nicht, weil ihr die Pornoindustrie am Herzen liegt. Ist sie freiwillig ausgestiegen, als ihr Onkel Präsident wurde?“
„Was heißt schon freiwillig? Sie hat es wohl eingesehen.“ MW schien das zu schnell geschossen.
„Sicher?“, fragte er deshalb sicherheitshalber nach. Brownes Blick senkte sich.
„Nein.“, gab der zu.
„Was macht sie jetzt? Womit verdient sie ihr Geld?“
„Sie versucht sich in Webdesign und Fotografie.“
„Kann sie davon leben?“
„Man hilft ihr.“
„Vitamin B?“
„Ja.“ MW zog die Mappe zu sich, blätterte und wurde bleich.
„Hübsches Mädchen. Donnerwetter!“ Er war bei den Fotos angelangt, die sie bei der Arbeit zeigten. „So einen Körper habe ich überhaupt noch nicht gesehen.“
„Ja, sie ist eine schöne Frau, sehr körperbewusst, ihr Körper war ja mal ihr Kapital, sehr sportlich.“
„Warum stellen Sie ihr nicht einfach zwei Bodyguards zur Seite?“
„Ihr Onkel wollte den Besten; außerdem sehen Sie nicht wie ein Bodyguard aus. Es soll alles sehr … diskret sein.“ MW sah sein Gegenüber scharf an.
„Wie, dachten Sie sich denn, soll ich auf sie aufpassen?“ Browne wurde rot, obwohl er auf diese Frage, die im Laufe ihres Gesprächs einfach fallen musste , vorbereitet war. Immer und immer wieder war er diese Szene während des Flugs prophylaktisch durchgegangen. Dass dieser MW sich als mehr als nur schwierig herausstellen würde, hatte er allerdings dabei nicht bedacht.
„Indem Sie bei ihr einziehen.“, nuschelte er und sah auf die Tischdecke. MW verzog das Gesicht.
„Sie wollen, dass der Täter zuschlägt, wenn ich dabei bin, weil er mich möglicherweise unterschätzt und ich dann die Kartoffeln aus dem Feuer hole, indem ich die Arbeit der Polizei mache?“
Browne wurde verlegen und hob beschwichtigend die Hände.
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