„Nein, aber er beobachtet euch. Er beobachtet euc!h Also nimm Debbie und komm sofort zurück!“
„So geht es natürlich auch “, murmelt Shane leise, nachdem Anne den Telefonhörer aufgelegt hat. Wieso auch? Es ist die einzige Möglichkeit! Wie konnte sie ihr Mädchen überhaupt zur Tür hinausgehen lassen? Sie musste hier bei ihr sein, sie durfte sie keinen Moment mehr aus den Augen lassen. Sie muss darauf achten, dass Debbie im Haus bleibt, damit dieses Monster nicht noch einmal einen Blick auf ihr Kind werfen konnte. Er hatte ihr ein Kind gestohlen, sie würde auf gar keinen Fall zulassen, dass er ihr das zweite auch noch nimmt. Nie wieder wird sie ihr kleines Mädchen auch nur für eine Sekunde aus den Augen lassen.
Im Wohnzimmer herrscht wieder vollkommene Stille. Oder kann Anne einfach nur die Geräusche nicht mehr wahrnehmen, blendet die Angst alles Unwichtige aus und sie ist wieder in ihrer eigenen Welt gefangen? Sie blickt Adam in die Augen, der sie nicht wahrzunehmen scheint. Er starrt immer noch auf das Telefon. Die Ruhe wird vom Schrillen der Türklingel zerrissen. Da sich weder Anne oder Adam, noch sonst jemand der Familie bewegt, geht einer der Polizisten, um die Tür zu öffnen. Er kehrt mit einem Jugendlichen zurück. Shane schätzt ihn auf den ersten Blick auf ungefähr 16 Jahre ein.
„Ähm, tut mir echt leid. Ich wollte hier keine Aufregung veranstalten. Das Paket ist keine Bombe oder so. Das war nur ich.“ Adam erwacht so plötzlich aus seiner Erstarrung, dass weder Shane noch seine Kollegen schnell genug reagieren können. Er stürmt auf den Jungen zu und drückt ihn mit einem Würgegriff gegen die Wand. „Du hast mein Kind?“, schreit er wie von Sinnen,“ Wo ist sie? Was hast du mit ihr gemacht?“
Mc. Gee und Pete ziehen mühsam den um sich schlagenden Adam von dem Jungen weg, der sich keuchend an den Hals fasst. „Alter, ich habe überhaupt niemanden. Ich hab nur das Päckchen, dass mir die Kleine und ihr Dad gegeben haben, hinterlegt.“
Shane blickt den Jungen kurz an, bevor er sich vor Adam stellt, und mit lauter Stimme sagt:“ Das ist er nicht Adam, das ist nur ein kleiner Botenjunge, der keine Ahnung hat, um was es hier geht.“
Der Junge blickt etwas verwirrt durch den Raum und murmelt leise:„ Eigentlich dachte ich, es wäre so eine Art romantische Schnitzeljagd. Zumindest hat das der Dad gesagt.“ Shane vergewissert sich, dass sich Adam wieder beruhigt hat und fordert dann den Jungen auf, alles zu erzählen. Sie erfahren, dass er von einem Mann mit schwarzen Mantel und Hut, der „schwer in Ordnung“ zu sein schien, angesprochen wurde. Ein kleines blondes Mädchen, das eine kleine Schachtel mit der Aufschrift „für Mommy“ in der Hand hielt, begleitete ihn. Sie gaben ihm diese Adresse und baten ihn, das Paket an der Terrassentür abzulegen. Die kleine Schachtel hatte er heute am frühen Morgen abgelegt, damit es die Mutter, wenn sie zum Kaffeetrinken auf die Terrasse geht, entdeckt. Eine romantische Schnitzeljagd als Überraschung für Mommy. Er war ganz gerührt von dieser Idee, bis er wieder hier vorbeifuhr und entdeckte, dass alles voller Polizisten war. Er dachte, dass sie Angst vor einer Bombe oder ähnlichem hatten, also ist er hergekommen, um sie aufzuklären. Der Junge beendet die Geschichte mit einem geseufzten: „Und hier bin ich“, und blickt die Polizisten rund um ihn erwartungsvoll an. Shane zieht ein Bild hervor und fragt:“ Ist das das Mädchen?“ Der Junge schüttelt den Kopf, meint aber, dass sie sich sehr ähnlich sehen.
„Mc.Gee “, sagt Shane mit einem so scharfen Befehlston, dass der Junge erschrickt.“ Zeig ihm die Bilder der anderen Mädchen. Und wir brauchen ein Phantombild von dem Mann.“
„Ähm, ich weiß nicht so recht, ob ich da helfen kann “, murmelt der Junge. „Ich hab von dem Mann nicht so viel gesehen. Er hatte den Hut ins Gesicht gezogen. Ich dachte wegen einer Verletzung oder so, da wollte ich nicht hinstarren. Ist ja unhöflich, jemand so anzuglotzen.“
„Und wenn Sie nur das Kinn gesehen haben, ist es immer noch besser als nichts “, meint Shane nur und wendet sich den anderen zu. „Nehmt von dem Jungen Fingerabdrücke, die werden auf der Schachtel sein, vielleicht haben wir Glück und es sind andere auch oben. Mc.Gee, die Fotos!“, ruft er ungeduldig. Mc. Gee zuckt kurz nervös zusammen und fischt dann sein Smartphone aus der Tasche. Er hält es dem Jungen vor die Nase und zeigt ihm verschiedene Fotos. „Die ist es. Wieso habt ihr denn ein Foto von ihr?“, fragt der Junge verwirrt. Shane lächelt ihn leicht amüsiert an. Er scheint nicht der Hellste zu sein, denkt Shane, sonst hätte er zwei und zwei kombiniert und daran gedacht, dass es möglicherweise ein vermisstes Mädchen ist. Schnell wischt den kurzen Gedanken der Ablenkung beiseite und fragt:“ Welche?“
„Die Zweite.“
„Gut, Sanders, sie halten hier die Stellung. Ich und Mc.Gee fahren zu den Eltern.“
Ohne weitere Worte verlässt Shane mit Mc. Gee das Haus. Sie durften einem Elternpaar Hoffnung machen. Konnten ihnen mitteilen, dass es ein Lebenszeichen von ihrem Kind gibt. Leise flüstert er ein Stoßgebet zum Himmel. Er betete darum, dass sie ihnen diese Hoffnung nicht wieder rauben mussten.
Er lächelt, als er den Telefonhörer auflegt. Kichernd tritt er aus der Telefonzelle heraus und blickt auf das Schulgebäude hinüber. Wenn er Glück hatte würde, jemand die Schwester anrufen. Und er würde hier warten und den Gesichtsausdruck beobachten, wenn ihr klar werden würde, dass er sie die ganze Zeit beobachtet hat. Er hat hinter ihr gesessen, als sie mit ihrer Nichte beim Frühstück saß. Er hatte dem Mädchen die Gabel aufgehoben, als sie ihr hinuntergefallen war und hatte sie angelächelt. Beinahe hätte er sie angefasst, hätte ihre Finger berührt. Aber er konnte sich gerade noch zurückhalten. Man hätte meinen können, dass alles in Ordnung ist, ein ganz normaler Ausflug einer Tante mit ihrer Nichte. Wären da nicht die traurigen Augen gewesen und immer wieder der nervöse Blick auf das Handy. Ein Außenstehender hätte meinen können, dass sie auf der Flucht sind oder verfolgt werden. Ein amüsantes Detail, wenn man bedenkt, dass sie tatsächlich verfolgt wurden, ohne es zu bemerken.
Er stellt sich zur Bushaltestelle, um nicht aufzufallen. Da kramt die Tante, die, wie er beim Frühstück herausgefunden hat, Marry heißt, auch schon in ihrer Tasche und zieht ihr Handy heraus. Er hätte es beinahe versäumt, weil er sich kurz weggedreht hat. Sie hebt ab. Ihre Lippen bewegen sich kurz, wahrscheinlich für einen Gruß. Sie sagt noch etwas und dann ist der da. Der Ausdruck auf den er gewartet hat. Ihr Gesichtsausdruck verändert sich so plötzlich, als wäre sie zu einer völlig anderen Frau geworden. Gehetzt dreht sie sich im Kreis. Sie haben ihr also verraten, dass sie verfolgt wurde. Bestimmt sucht sie ihn. Kurz blickt sie ihn direkt an, er lächelt ihr zu, aber sie weiß ja nicht, dass er sie beobachtet, und sie steht zu weit weg um es zu erkennen. Gerne würde er den Moment festhalten, doch das würde zu sehr auffallen. Aber er hat immer noch die Kameras, die er beim Haus installiert hat. Hoch in einem Baum, fern von allen Blicken, und mit freier Sicht auf die meisten Zimmer im Haus. Er könnte sich alles ansehen, wenn er zuhause ist. Nachdem er heute das Paket abgeliefert hat, muss er nun seinen Beobachtungsposten hinter der Hecke aufgeben. Sie in natura zu beobachten, wäre natürlich noch besser, aber der Brief und der Anruf waren ein wahrlich aufregender Schachzug von ihm. Er spielt gerne Spiele und er ist ein sehr guter Spieler, er würde sogar sagen, der Beste Und da die anderen nun wissen, dass sie in diesem Spiel mitspielen, werden sie bestimmt auch zu guten Gegenspielern. Natürlich nicht so gut wie er, aber sie bringen bestimmt eine Spannung rein, die er sehr genoss.
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