Dann holt er sein Handy aus der Tasche, er scheint kaum gewählt zu haben, da redet er auch schon in das Telefon.
„Mc.Gee? Ich brauch dich hier. Sofort!“
Nach dieser Anweisung wendet er sich wieder der Familie zu, die immer noch im Kreis steht. Er bittet sie, hineinzugehen. Es sieht nicht danach aus, als ob das Paket gerade erst abgelegt wurde, also würde es keinen Sinn machen, sofort die Gegend abzusuchen. Er muss sich erst um die Familie kümmern, die nicht weiß, wohin mit ihren Gefühlen. Ist es mehr Angst als Grauen oder doch mehr Grauen als Angst, was sich in ihren Gesichtern wiederspiegelt? Gibt es zwischen diesen beiden Gefühlen überhaupt noch einen Unterschied?
Anne lässt sich von ihrem Mann ins Wohnzimmer führen. Sie merkt nicht, dass sie sich den Ellbogen an der Tür stößt, merkt nicht, wie fest Adam ihren Arm umklammert. Da ist nur ein neuer Satz in ihrem Kopf, eine neue Stimme die schreit: „ Er war hier! Hier, in ihrem Garten, während sie alle drinnen waren.“
Wieder füllt sich das Wohnzimmer mit Polizisten. Die Spurensicherung durchkämmt den Garten, sucht Hinweise auf denjenigen, der das Paket abgelegt hat. Alles zieht an Anne vorbei, als wäre sie in einer ruhigen Mitte, als wäre in ihrem Bereich die Zeit stehen geblieben und draußen bei den Anderen rennt sie doppelt so schnell weiter.
Shane, der mit der Spurensicherung auf der Veranda steht, kniet sich nun vor das Paket. Er trägt wie die anderen Gummihandschuhe. Vorsichtig öffnet er die kleine Schachtel, die nichts weiter als einen kleinen Zettel enthält. Er nimmt die Pinzette, die im gereicht wird, und hebt mit ihr den Zettel vorsichtig heraus. Um lesen zu können, was darauf steht, muss er den Zettel etwas drehen, da er ihn verkehrt hält. Dann erkennt er den Schriftzug.
„ Ich werde dich um 11 anrufen. Und du solltest besser rangehen, Mom, oder mein nächstes Souvenier ist eine Hand.“
Sofort lässt er den Zettel in die Schachtel fallen, steht auf und ruft nach Mc.Gee, während er sich die Handschuhe von den Händen streift. Dieser eilt sofort an Shanes Seite und fragt verwirrt, was den los sei.
„Er ruft in 5 Minuten an, wir müssen die Mutter vorbereiten.“
Ohne weitere Fragen zu stellen, folgt Mc.Gee Shane ins Wohnzimmer. Sie setzen sich auf den Stuhl gegenüber der Couch, auf der Anne immer noch regungslos sitzt.
„Es handelt sich um einen Hinweis, dass wir einen Anruf erhalten werden“, beginnt Shane zu erklären.
„Einen Anruf?“, ruft Adam überrascht. „Und was soll ich machen, wenn ich rangehe? Etwas fragen? Etwas Verlangen?“
„Adam, der Hinweis enthält auch die Aufforderung, dass deine Frau an das Telefon gehen soll und wir denken, dass wir dieser Aufforderung nachkommen sollten.“
„Anne? Anne soll abheben?“ Adam blickt seine Frau an, die stumm neben ihm sitzt, nicht fähig etwas zu sagen oder sich zu bewegen. Vorsichtig nimmt er ihre Hand und drückt sie. „Anne? Liebling? Hast du gehört, was sie gesagt haben?“ Anne antwortet zuerst nicht, erst als Adam die Frage nochmal stellen will, flüstert sie leise: „Ja, hab ich. Was muss ich sagen?“ Sie versucht sich zusammen zu reißen, auch wenn alles in ihr „Ich kann das nicht“ schreit. Sie will einschlafen, sie will, dass der Schmerz aufhört, dass die Schreie in ihrem Kopf, und dass die Angst, die überall ist und mit jeder Sekunde wächst, verschwinden. Doch wird all das nicht geschehen. Nicht, solange ihr Kind nicht da ist. Sie zwingt sich Shane zuzuhören, wie er ihr all die Dinge erklärt, die sie nicht verstehen kann. Nach Sarah fragen, ein Lebenszeichen verlangen. Möglichst ruhig bleiben. Im Gespräch bleiben. Möglichst lange, damit die Fangschaltung, die bereits gestern eingerichtet wurde, zuschlagen kann. Dann warten sie. Es ist still, obwohl so viele Menschen im Wohnzimmer sitzen und mit ihnen warten. Anne nimmt nicht wahr, wer wo steht oder sitzt oder was die Personen in diesem Zimmer alles tun oder nicht tun. Sie sitzt nicht mehr auf der Couch, sondern auf einem Sessel vor dem kleinen Tisch auf dem das Telefon steht. Aber das macht keinen Unterschied, weil sie nicht spüren kann, ob sie gemütlich sitzt oder nicht. Sie könnte auch stehen, ohne es zu bemerken. Dann ertönt das unheilvolle Klingeln und obwohl Anne darauf gewartet hat, zuckt sie zusammen. Shane, der neben ihr steht, drückt den Knopf der Freisprechanlage und gibt Anne ein Zeichen.
„Hallo?“ meldet sich Anne zaghaft. Eine Stimme erklingt, die in einem so grässlichen Ton spricht, dass es jedem im Raum kalt über den Rücken hinabläuft. Hämisch, beinahe spöttisch sagt sie:“ Hat dir das Geschenk gefallen, mein Schatz? Ich muss sagen, dein Mädchen ist wunderschön. Wobei das zweite auch wirklich hübsch ist. War das ihre Tante, die sie mit dem silbernen Wagen zur Schule gebracht hat? Tststs, so spät aufstehen und zu Corners frühstücken gehen, und das an einem Schultag.“
Der danach folgende, lange Ton, der anzeigt, dass am anderen Ende wieder aufgelegt wurde, drückt sich mit derselben Grausamkeit in die Stille, wie die Stimme selbst. Anne starrt einfach nur fassungslos auf das Telefon. Es ging alles so schnell vorbei, dass sie sich nicht sicher ist, ob es wirklich passiert ist. Hat wirklich jemand gesprochen? Wirklich jemand angerufen? Oder hat sie sich alles nur eingebildet? Ein Mensch kann doch nicht so eine Stimme haben? Shane drückt auf einen Knopf und der Ton verstummt. Es herrscht vollkommene Stille. Nicht einmal ein Atemzug ist hörbar. Haben alle die Luft angehalten, weil sie sich nicht trauen zu atmen, oder ist es ihnen einfach unmöglich zu atmen, weil es die Angst verbietet? Diese Angst, die unaufhaltsam weiterwächst? Diese Angst die überall ist, weil diese Stimme alles vergiftet hat. Weil ein Monster in ihrem Garten war, so nahe an ihrem Haus, in dem sie sich bis jetzt immer sicher gefühlt haben.
Irgendeine Stimme sagt:“ Haben Sie alles aufgenommen? Gut. Schicken Sie es zur Analyse.“ Doch wer es ist, wer antwortet und ob überhaupt jemand antwortet, nimmt Anne nicht wahr. Auch nicht, dass Adam plötzlich hinter ihr steht, und seine Finger sich in ihre Schultern krallen. Eiliges Treiben, hastiges Telefonieren, plötzlich flüstern sie alle miteinander. Doch Annes Welt steht noch still. Sie ist wieder in ihrer Blase. Gefangen, ohne ihre Umwelt wahrzunehmen. Debbies Name, von einem Fremden ausgesprochen, zersticht die Blase, wie eine Nadel einen Luftballon. Es kommt Anne so vor, als wäre sie mit einem Knall wieder in die reale Welt geschleudert worden.
„Wo geht Debbie zur Schule?“
Anne dreht sich zu der Richtung, aus der die Stimme kommt. Hinter ihr steht ein Mann, der zu Adam blickt. Doch bevor dieser reagieren kann, fragt Anne:“ Wieso wolle Sie das wissen?“
Überrascht blickt sie der Mann an. Erst jetzt erkennt sie, dass es Mc.Gee ist. Eine Reaktion von Anne hatte er nicht erwartet. Er blickt fragend zu Shane, der die Antwort übernimmt, wieder möglichst vorsichtig formuliert:“ Wir müssen nach diesem Anruf davon ausgehen, dass er möglicherweise auch eure zweite Tochter beobachtet. Solange wir nicht sicher wissen, ob das wahr ist oder nicht, werden wir sie unter Polizeischutz stellen.“
Da erst klingt der Satz noch einmal in Annes Ohren, erst jetzt hört sie den Inhalt und nicht nur die Stimme. „Das Zweite ist auch wirklich hübsch.“ War damit Debbie gemeint? Wollte er ihre Debbie auch noch holen? War ihm Sarah nicht genug? Die Angst um ein Kind ist kaum auszuhalten, aber um zwei Kinder, um die ganze Familie? Er war hier, und er sieht sie. Er beobachtet sie. Anne hebt den Telefonhörer ab. Ohne auf irgendjemanden zu achten, wählt sie automatisch Marrys Nummer.
„Marry? Ich bin es. Du musst Debbie zurückbringen! Sofort!“ Sie schreit so laut ins Telefon, als müsste sie ihre Schwester ohne Telefon erreichen.
„Gibt es etwas neues von Sarah?“, fragt Marry überrascht.
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