1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Das Leben bestand für uns nur noch aus Todesgefahr.
... nein. Falsch. Für mich bestand es aus Todesgefahr. Willie bekam meine Sorgen ja gar nicht mit.
Er konnte manchmal kein Essen mehr behalten, kotzte mitten in öffentlichen Verkehrsmitteln. Wir wurden beschimpft und verhöhnt, ich, als Begleiterin eines Junkies, galt natürlich auch als Junkie. Ich lernte, die Umrisse von Polizeiautos und Polizisten schon von weitem wahrzunehmen und ihnen auszuweichen, ebenso wie ich anfing Junkies an ihrem Verhalten, ihrer Sprechweise und Körperhaltung von Alkoholikern und simpel Verrückten zu unterscheiden. Niemals bot uns jemand Hilfe an, wenn ich Willie durch die Straßen zur Drogenambulanz schleppte. Schlimmer als das Schleppen des neunzig-Kilo-Mannes war es aber, wenn er - gut »drauf« - grinsend behauptete, alles sei in Ordnung, und ich sollte ihm nicht »auf den Arsch gehen«. Er wollte mich abschütteln wie eine Fliege, wurde gemein und ausfällig und brachte mich durch sein absolutes Verleugnen jeglicher Sinnhaftigkeit meines Tuns zum Weinen. Wie gerne hätte ich ihn losgelassen, wäre einfach auf und davongelaufen, gefahren, geflogen!
Statt dessen schluckte ich seine Verachtung, redete auf ihn ein, versprach ihm nun meinerseits das Blaue vom Himmel, ließ mir immer wieder neue Ablenkungsmanöver einfallen, um ihn daran zu hindern, unser Ziel, von seiner Sucht loszukommen, aufzugeben. Einen Drogensüchtigen, der von seinem Stoff beseelt wandelt, unter Kontrolle zu halten oder ihn gar in Drogenambulanzen bringen zu müssen, ist ein qualvolles Unterfangen ... nicht für den Süchtigen. Der anhaltende Kampf hat mich zermürbt.
Warum, hat eine Freundin gejammert, ... machst du dich fertig, seinetwegen? Du kannst ja schon nicht mehr ...
Aber geholfen hat sie mir nicht.
Auch wenn Willie mir allerunschuldigst seine Handflächen präsentiert hat, mich groß angeschaut und steif und fest behauptet hat, er hätte es ohnehin schon geschafft, es gehe ihm doch super, und morgen würde er sich einen Job suchen, wusste ich doch, Stunden später würde aus dem große Sprüche Klopfenden wieder ein hilfloses Bündel Zittern werden. Und sein einziges Verlangen würde sein: irgendetwas, das Hirn und Körper wieder betäubt, wenn das Bewusstsein zu sich kommt und er Körper sich in einen einzigen Schmerz verwandelt, Alltag und Zukunft nichts als drohend sind. Ich habe zu wissen gelernt, wie er sich fühlt. Aber er hat nie eine Vorstellung davon gehabt, wie es mir ergeht.
Willie sackte zuweilen in gnädige Verwirrtheit ab. War er bei sich, dachte er an Stoff. Hatte er welchen, ging es ihm vermeintlich gut, und er lachte mich aus.
... ich sollte den Kerl doch vorbeibringen, schlug der Polizist am Telefon gemächlich vor, und es klang, als knabberte er Kekse, während er mit mir redete. Ich roch meinen eigenen Schweiß, mir schwindelte, und ich musste mich zu Willie auf den Boden setzen. Ein Glück, fast, dass ich keinen fixen Job hatte, arbeiten hätte ich sowieso nicht mehr können ...
... jawohl, den Giftler, ganz genau, den sollte ich vorbeibringen, meinte der Polizist, ... auf den Polizeiposten, natürlich, und wenn es nicht mehr ginge, ginge es eben nicht mehr ...
»Zu ... zu den Bullen?« Willie kicherte.
... aber warum zur Polizei, stammelte ich, ich wollte doch nur wissen, wo man ihm helfen konnte! Nicht ihn ausliefern! Warum konnte man mir nicht einfach Rat geben ... Willie hustete und erbrach grüngelbe Brühe.
„Na, irgendwoher wird er sich's ja beschafft haben, das Zeug, Fräulein. Legal ist 's nicht, wie Sie wissen, Fräulein! Wie heißen Sie denn?" Der Polizist schien alle Zeit der Welt zu haben in seiner Wachstube. Ich habe ihn angeschrien, glaube ich, Spucke in den Telefonhörer sprühend, ... er stirbt vielleicht, habe ich geschrien, und was er mit meinem Namen wollte, ich weiß ja nicht, was er genommen hat ... das mit dem ambulanten Entzug sei doch nur Scheiße! dass er in ein Krankenhaus müsse, hab' ich getobt. Sofort!
»Ihren Namen, Adresse,« hat der Polizist seelenruhig gefordert ... durch den Telefonhörer rasen und ihn erwürgen ... erstand ein panikhafter, wilder Gedanke ... Dieses süffisante »Fräulein, was wollen Sie eigentlich?" wird auf ewig in meinem Gedächtnis gären. Es war ätzend, als hätte man mir Gift eingeflößt. Was ich wollte, fragte er allen Ernstes? Ob es denn keinen Notdienst gäbe? Was musste man denn tun, um ein Krankenhausbett zu bekommen? Ob denn nie sonst Leute mit solchen Notfällen anriefen? Willie keuchte mich an, ob ich, ... verflucht, Baby! ... etwa mit den Bullen redete? Er versuchte, sich aufzurichten.
Ja, es gäbe eine Möglichkeit sofort einen stationären Entzugsplatz zu bekommen, raunte der Polizist, einen erstklassigen Platz sogar. Bloß Name und Adresse des Dealers hätte ich zu liefern. Des Dealers! Am besten gleich mehrerer. Sonst nichts. Ich sollte es mir überlegen, murmelte der Herr Beamte, und im Hintergrund habe ich jemanden lachen hören. Wenn mir der Herr so wichtig sei ...
Ich habe den Rat des Beamten nie befolgt. Überhaupt hatte ich ja keine Ahnung, wer Willies Dealer war(en). Warum hätte er es mir auf die Nase binden sollen?
Welcher Junkie, der von seinem Entzug nicht überzeugt ist, lässt seinen einzigen Halt fahren - den Dealer?
In welchen Mustern denken eigentlich Polizisten?
*
Weshalb ich so blindlings in Willies Welt eingestiegen bin? Er hat es durchaus zuweilen mit der meinen versucht, aber sein Umfeld ist immer stärker gewesen, als meines, hat sich an ihm festgesaugt.
Mit aller Verliebtheit, zu der ich fähig gewesen bin, habe ich alles darangesetzt, Willie kennenzulernen. Er hat mich fasziniert, und ich kann nicht erklären, warum und wodurch. Den Liebesbrief hat er nie erhalten, weil er irrtümlich bei einem namensgleichen Briefträger gelandet ist. Sogar angerufen habe ich Willie, ermutigt von meiner Freundin, die mein Gejammer nicht mehr mitanhören wollte. Mein erstes Gespräch mit Willie war - nett. Sehr nett. Unglaublich nett. Natürlich habe ich mich nicht zu erkennen gegeben. Ich weiß auch nicht mehr, was ich gesagt habe, nur, dass seine verhaltene, dunkle, langsame Sprechweise am Telefon mich geradezu betört hat. Und wir haben gegenseitig unsere Stimmen belauert, als erwarteten wir, dass der andere sich jeden Moment als Gefahr für Leib und Seele zu erkennen geben würde. Neugierig waren wir und schüchtern. Beide.
Nach diesem ersten Gespräch bin ich lange in der abendlich dunklen Küche der Wohnung meiner Mutter gesessen und habe seinen Worten nachgelauscht. Meine Freundin hat mich allein gelassen mit meinem Grübeln, und ich habe nicht gewusst, was mich so betroffen macht. Die Ahnung des Kommenden? Verliebtheit? Mitleid? Hoffnung? Ich glaube, ich habe damals schlicht begriffen, dass es zu spät war, diese Beziehung aufzuhalten.
Damals ist Willie aber ohnehin schon auf mich aufmerksam geworden, denn in seinem Freundeskreis hat es zwei Mädchen gegeben, die ganz gut mit meinem Bruder bekannt gewesen sind, und die kannten natürlich mich. Also ist schnell das Gerücht aufgekommen, dass ich die Anruferin gewesen sein könnte, vor allem, weil ich Willie ja plötzlich ständig über den Weg gelaufen bin.
Irgendwann geschah es, dass meine Freundin und ich Willie in einem Lokal so lange heimlich vom Nebentisch aus beobachteten, bis er sich zu uns an den Tisch setzte. dass ein Bursche bei uns war, den Willie kannte, ermöglichte es ihm. Die Szene, da Willie von seinem Platz an dem anderen Tisch aufstand, während ich verfiel, weil ich glaubte, er würde das Lokal nun verlassen und er statt dessen groß, schwer, gelassen und sein Haar zurückwerfend an unseren Tisch trat und sich einfach mir gegenüber hinsetzte, wird mir auf immer unvergesslich bleiben. Es ist der Augenblick gewesen, da ich geahnt habe, dass ich erreichen könnte, was ich ersehnte. Und Willie hat wohl gewittert, dass von mir etwas zu holen sein würde ...
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