Er hat später gesagt, meine weißen Stiefel und weil mir meine Aufregung und Unschuld von weitem anzusehen gewesen ist, hätten ihn gerührt. Und er hätte ich schon länger beobachtet, seit man ihm gesagt hätte, ich führe sagenhaft auf ihn ab. Mit ihm zu sprechen war allerdings schwierig. Er sagte nicht viel, und stellten wir ihm konkrete Fragen, gab er sie einfach zurück.
»Wo wohnst du?«
»Überall und nirgends, - und du?«
»Warst du wirklich in Indien?«
»Wer weiß ...«
»Wie heißt du eigentlich?«
»Stefan. Oder Thomas. Oder Ferdinand ...«
»Nein, wie heißt du wirklich?«
»Warum willst du das wissen?«
Meine Freundin stieß mich unter dem Tisch an, sie fragte Willie, ob er keine ganz normalen Fragen ganz normal beantworten könnte. Er antwortete ihr einfach nicht, trank sein Bier und schaute uns nur dunkel an. Ich war ohnehin zu keiner großartigen Konversation fähig, weil ich tiefrot die Tischplatte anstarrte. Einen glühend umschwärmten Menschen nahe zu fühlen ist, wie viel zu heiß zu duschen. Und mein Hirn kochte, mein Bauch krampfte, meine Finger schwitzten.
Das Unglaubliche geschah: Auf Initiative des anderen Burschen, der meine Freundin zu verführen gedachte, verabredeten wir alle vier uns für denselben Abend in einer jener Kneipen, die zu betreten mir niemals eingefallen wäre. Ja, hab' ich gelogen, selbstverständlich kannte ich das Lokal, oft wäre ich schon dort gewesen.
»Komisch, bist mir gar nicht aufgefallen,« murmelte Willie, schaute mich mit diesen unvergleichlichen grüngrauen, tiefliegenden Augen streng an und begann doch zu grinsen, »... bis jetzt ...« Die Art, wie er sich zurücklehnte und rauchte, sein Glas aufnahm, mich dabei nicht aus den Augen ließ und sich durch die Haare fuhr, hatte etwas Mondänes, unglaublich Überlegenes. Ich verliebte mich an Ort und Stelle noch viel mehr, so sehr, dass mir übel wurde ...
... diesen Mann wollte ich haben, um jeden Preis haben ...
... es handelte sich um eine der übelst beleumundeten Spelunken der Gegend. Meine Freundin stimmte eifrig zu, ... jaja, klar würden wir hinkommen, kein Problem. Willie grinste nur dieses unbestimmte, leicht spöttische und doch irgendwie ermutigende Lächeln, das ich an ihm hasse und sehr mag. Es macht ihn fremd und reizvoll, bedeutet alles und nichts. Mir fuhr es durch Mark und Bein. Er vergaß eine Packung Disketten für seinen Computer an unserem Tisch, und so hatte ich einen Vorwand, die Verabredung tatsächlich einzuhalten.
Willie ist unglaublich erfinderisch, wenn er ein Ziel vor Augen hat. Dafür bewundere ich ihn, wenn diese seine Fähigkeit mir auch schlimme Erfahrungen eingebracht hat.
»Ich bin auf Heroin gewesen,« erklärte er mir in derselben Nacht, als wir am Wörther See spazierengingen. Es war, als erzählte ein abgeklärter Hahn einem Küken davon, dass er täglich mit dem Adler beim Mittagstisch säße. Ohne zuvor viel mit mir geplaudert zu haben, hatte er mich aus dem Kreis seiner und meiner im nächtlichen Tanz- und Rotweinrausch überdreht herumirrenden Bekannten gefischt und mir seine Lederjacke umgehängt. Ich ging neben ihm durch die feuchte Nacht und genoss es, obwohl wie gelähmt vor Aufregung. Meine Zähne klapperten. Ich glaube, ich sagte etwas wie »Ach so,« und »Und wie ist das jetzt?«, und er antwortete, er sei jetzt clean. Und zwar deshalb, weil Drogen hier viel teurer seien als in Indien.
Ich weiß noch, dass ich lachte. Na, fein, dachte ich, das heißt, er würde gern, kann aber nicht ... Ich ahnte nicht, wie treffend mein Gedanke Willies zukünftige allgemeine Lebenslage definierte. Das Wort »clean« kannte ich aus Filmen. Willie sah umwerfend attraktiv aus im Mondschein. Und dieser stattliche Bursche mit der sanften Stimme sollte etwas Krankes, Verderbtes wie ein Rauschgiftsüchtiger sein? Unsinn! Zwar fröstelte ich, denn etwas Unheimliches schien mich gestreift zu haben, aber ich hatte kein bisschen Erfahrung mit Drogen, noch wusste ich genug darüber, um richtig zu erschrecken. Und Willie legte mir dem Arm um die Schultern, um die Lederjacke besser zu fixieren. Das reichte, um mich vollends um meine Besinnung zu bringen.
Bei unserem nächsten Treffen in der Spelunke, die ich ja angeblich ohnehin regelmäßig aufsuchte, sagte er, er wollte mit mir in den Wäldern spazierengehen. Und ich müsste absolut keine Angst haben vor ihm. Nichts als spazierengehen wollte er.
Warum er das mit der Angst so betonte, bohrte meine Freundin. Manchmal gab sie mir bereits sanft zu verstehen, es sei vielleicht doch besser, ich würde mich nicht mit diesem Willie einlassen ... Ich glaubte aber, Willie zu durchschauen. Er wusste genau, dass die meisten Mütter dieser Welt ihren Töchtern den Umgang mit jemandem wie ihm verboten haben würden. Gerade dieser Gedanke machte es für mich zum absoluten muss, mit Willie spazierenzugehen. Wenn ich etwas hasse, dann sind das Vorurteile, und das war schon damals so. Im Wald mit diesem geheimnisvollen Fremden ... Willie würde mich nicht vergewaltigen, das wusste ich ... und umbringen würde er mich wohl auch nicht ... allenfalls konnte es peinliches Schweigen zwischen uns geben - ... oh ja, und ob ich mit ihm spazierengehen wollte!
Es gab zwei, drei Mädchen die Willie hofierten. Worin seine Verbindung zu ihnen bestand, wusste ich noch nicht, nur, dass sie sich darum rissen, ihn spätnachts, wenn er volltrunken Leute anstänkerte, nach Hause zu bringen. Da ich selbst mit Tommis Auto herumfuhr, hegte ich die stille Hoffnung, ich würde selbst einmal die Glückliche sein dürfen. Mein schlechtes Gewissen Tommi gegenüber wog leicht gegen diese Aussicht auf wunderbares Zusammensein mit meinem Erwählten. Und Tommi fragte schließlich nie, was ich mit dem Wagen unternahm.
Die Mädchen umschwänzelten Willie, der, groß und ruhig, zuhörte, nickte, gestikulierte, Zigaretten anbot, ab und zu mit Kumpels draußen in der Nacht verschwand. Die ungewohnte Musik betäubte mich, andererseits verstärkte sie noch den Eindruck, den Willie auf mich machte: Stolz, schlau, ein wenig tollpatschig und liebenswert. Willies Art mit Menschen umzugehen, ist einzigartig. Wer immer mit ihm spricht glaubt, nichts sei Willie im Augenblick wichtiger, als eben dieses Gespräch. Willie vermittelt immer den Eindruck, als sei er ganz Ohr und vollkommen bei der Sache. Frauen fallen ihm - nahezu wortwörtlich - in den Schoß. Wie sehr eifersüchtig ich von Anfang an war, wenn er eine Frau freundschaftlich um die Schultern nahm, sie mit Getränken und charmanter Unterhaltung versorgte, auch, wenn es nichts weiter zu bedeuten hatte als bloß Höflichkeit, hat Willie bis heute nicht erfahren.
Willie ist ein Blender.
Niemals werde ich aber behaupten, er sei durch und durch ein schlechter Mensch. Ich weiß es nämlich besser.
*
Habe ich je mit der Möglichkeit kokettiert, einmal an Willies Stelle zu sein, was Drogen betrifft?
Wüsste ich sicher, dass er sich auch um mich bemühen würde, oder besser - dass irgendjemand sich um mein Überleben bemühen würde, könnte es sein, dass ich einem alten Reiz nachgebe. Die Wahrscheinlichkeit, dass es so sein wird, ist aber gleich Null. Allenfalls wenn ich nichts mehr zu verlieren hätte in diesem Leben würde ich alle Drogen er Welt ausprobieren wollen. Bis vor einem Jahr habe ich sogar einen Zettel mit der Adresse eines Dealers besessen. Ich Idiot, sagte ich eines Tages, wenn jemand den gefunden hätte! Aber - warum sollte jemand einen simplen Zettel wichtig finden? Ist die Gefahr, Willies wegen in Teufels Küche zu geraten, denn immer noch nicht vorbei?
Willie ist seit ein paar Wochen verschwunden.
*
Sooft ich nach Willies Entzug mit ihm wieder in der Stadt unterwegs gewesen bin, habe ich mich dabei ertappt, dass ich scharf beobachtet habe, in welche Richtung sein Blick geschweift ist. Leider entgeht mir heute keine Regung seines Gesichts mehr, nichts an seinem Verhalten kann ich übersehen. Als wir neulich kurzfristig wieder zusammengewohnt haben, sind mein Misstrauen und meine gereizte Reaktion auf den kleinsten vermeintlichen Fehler in Willies Verhalten Garanten dafür gewesen, dass unser Zusammenleben nicht funktionieren können würde. Ich bin nämlich dazu verflucht, alles in meinem Umkreis zu registrieren und Willie auf ewig zu misstrauen. Und das vielleicht sogar zu Recht.
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