Dass ich male, hilft mir ein bisschen, meinen Geist zu lüften. In bunten Farben male ich die schwärzesten Gedanken. Unerkannt bleiben sie zumeist von denen, die helle Farben mit heller Stimmung verwechseln. Ich genieße schmerzende Bandscheiben, steife Handgelenke und entzündete Fingerglieder. Ich komme nicht zur Ruhe, und gerade das erschafft immer neue Bilder in meinen Kopf.
*
Eines Nachts war es soweit. Ich hatte stundenlang in der Spelunke ausgeharrt, geneckt von den Burschen, argwöhnisch gemustert von den Mädchen, spaßeshalber herumgeschubst und begrapscht von den Dreistesten und tapfer an meinem Rotweinglas festhaltend. Eine meiner Freundinnen, die mich an diesem Abend begleitete und die plötzlich einen Narren gefressen hatte an der »Szene« der bösen Buben, blieb an meiner Seite, und ich glaube, sie amüsierte sich ganz gut mit Willies Bekannten. Jedenfalls sah ich sie auf dem Boden herumbalgen und auf Tischen tanzen. Übrigens hat keine meiner Freundinnen je tiefere Bekanntschaft mit Willies Freunden gemacht ...
Genau im richtigen Ausmaß beduselt, um nicht verkrampft zu sein, unterhielt ich mich mit irgendwem und ließ mir Anmache gefallen, unaufhörlich von Willies Blick umfangen. Genüsslich konnte ich so tun, als merkte ich es nicht. Grete, die kleine Dicke, ein Ausbund an Hässlichkeit, obendrein höchst unsympathisch und offensichtlich schwer in Willie verliebt, hing zu dieser späten Stunde auch noch herum und erwartete offenbar, ihren Angebeteten wieder einmal heimchauffieren zu dürfen. Sie ließ den Autoschüssel klimpern. Ihre Freundin Mary dagegen schien mir ein hexengleiches Wesen zu sein, rothaarig, klein, hübsch, mit stechenden Blicken, die Willie offenbar gefielen. Wenn Willie die kleine Rundliche umarmte und ihr mit seinem Gesicht sehr nahe kam, war mir zum Weinen zumute, und ich unterhielt mich umso fröhlicher mit den anderen. Die düstere Musik fand ich mittlerweile richtig gut, hatte Smokie längst vergessen, und ich rauchte sogar Zigaretten. Die kleinen Gläser Rotwein summierten sich, und mein Grinsen krampfte in den Mundwinkeln. Plötzlich baute ein lederduftender Berg Mann sich neben mir auf. Seinen alkoholdunstiger Atem begegnete mir schwül, und Willies Stimme raunte unter der Mähne, die ihm stets ins Gesicht fiel, ob wir nun gehen könnten.
Wir?
Wir konnten!
Meine Freundin machte mir das Sieges-Zeichen, aber mir war alles andere als siegreich zumute. Ich war ganz einfach schockiert. Konnte es wirklich sein, dass mein Angebeteter für mich empfand wie ich für ihn?
Pulvriger, eisiger Frühlingsschnee war gefallen, und Willies bester Freund Balduin kam uns aus der Kneipe nachgewankt und grölte, aha, Willie würde mich heute also wohl endlich packen! Ich tat so, als hätte ich nichts gehört, verbarg mein leises Erschrecken. Willie winkte lässig ab, nannte seinen Freund einen blöden, versoffenen Hund, schaute mich ernst an und stieg einfach in Tommis Wagen. Ohne sorgenvoll nachzudenken wegen der Straßenverhältnisse kurvte ich auf Sommerreifen bergauf durch den Neuschnee, und ich vergaß auch, mit Willie zu plaudern. Die Tatsache seiner Nähe raubte mir jeden anderen Gedanken. Nur dass es Tommis Auto war, in dem ich nun mit meinem Schwarm saß, war mir plötzlich nicht mehr egal. Willie schien mein Schweigen nicht zu stören, denn er sprach auch kein Wort mit mir.
Vor seiner Haustür erklärte er, ich müsste nun mitkommen. Nachzudenken, was das zu bedeuten hätte, erübrigte sich, denn etwas in mir folgte ihm wie ein Hündchen. Und der Rest entsprach. Wie betrunken Willie war, konnte ich nicht ermessen, bloß, dass ich immer noch genug Dusel im Kopf fühlte, um bereitwillig Dummheiten zu machen.
Später lag ich an Willie geschmiegt auf dem Diwan im Wohnzimmer der Wohnung seiner Mutter, und ich schaute, nein, starrte sein morgengraues Gesicht von der Seite her an. War es zu glauben, dass ich tatsächlich neben ihm lag?
Zwischen uns hatte sich nichts abgespielt, wir hatten nicht einmal geschmust. Einfach nur da lagen wir, er auf dem Rücken, meine Wange auf seinen kühlen Haarsträhnen und an seinem Hals, und er war so groß und so warm und so fremd und roch so wunderbar nach Schweiß, Rauch, Rasierwasser und fettigen Haaren. Obwohl ich mich kaum sattsehen konnte an ihm, musste ich ständig daran denken, dass seine Mutter demnächst aus dem Nebenraum kommen und zur Arbeit gehen würde. Also befreite ich mich in mühevoller Kleinarbeit aus der Umarmung des Schlafenden, beglückt, weil ich nun schon viel mehr darüber wusste, wie er lebte. Sobald ich glaubte, mich nun fortstehlen zu können, fing Willie mich wieder ein, zog mich an sich und behauptete, mich sicher nicht gehen zu lassen. Oh doch, sagte ich, er widersprach, ich beharrte, alles im Flüstern, und er schlurfte mit mir zur Tür und fand, ich könnte ihn ruhig bald anrufen. Nein, ... meine Knie zitterten, weil ich drauf und dran war ihn vielleicht auf Nimmerwiedersehen zu verlassen, ... ich bin der Meinung, ich hab' genug getan. Nun bist du an der Reihe.
Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass ich dass sagte.
Später fand ich heraus, dass er mit der hässlichen Grete zuweilen schlief und dass er sich überhaupt sehr, sehr oft in der Wohnung aufhielt, die sie mit Mary teilte. Erst Jahre später erklärte er mir auch, warum. Vorerst glaubte ich nur, sterben zu müssen vor Eifersucht, weil bekannt war, dass Grete und er viel Zeit miteinander verbrachten. Meine Freundin meinte, ich müsste eben um ihm kämpfen, obwohl sie sich nicht vorstellen könnte, weshalb er wohl eine wie Grete einer wie mir vorziehen sollte. Aber Grete hätte aus irgendeinem Grund das Monopol darauf, ihm in den Arsch zu treten, wenn es sein musste und dafür von ihm beglückt zu werden.
Willie rief mich an, schickte mir verstörende, selbstverfasste Gedichte, und wir gingen miteinander spazieren, jawohl, im Wald, so wie er es gewollt hatte. Meinetwegen fing er an, überhaupt wieder an die frische Luft zu gehen, tagsüber, nämlich. Als ich dahinterkam, rührte es mich fast zum Weinen.
Drei Jahre hatte Willie in der Wohnung seiner Mutter zugebracht, im verdunkelten Raum unter Alkohol und Tabletten dahindümpelnd. Zu arbeiten war für ihn nicht in Frage gekommen. Ich begriff zwar nicht, warum das so gewesen war, aber ich wollte ihn nicht mit Fragen nerven. Seine Mutter hat ihn jahrelang versorgt. Später erfuhr ich, sie hat ihm täglich Alkohol und Tabletten gebracht, um ihn ruhigzuhalten und damit er überwachbar bleiben sollte. Niemals hat sie versucht, ihm dabei zu helfen, dass sein Leben sich normalisieren konnte. Ich glaube, sie hat einfach nicht gewusst, wie. Man könnte auch sagen: Sie hat sich keine Mühe gegeben, einen Weg zu finden.
Willies Mutter will bis heute nicht wahrhaben, weshalb Willie überhaupt jemals an Rauschgift geraten ist ... Es waren die Familienverhältnisse, in denen er aufgewachsen ist, da gibt es keinen Zweifel. Sie hat aber doch miterlebt, wie Willie unter dem Diktat seines Vaters gelitten hat, wie unglücklich und von hilflosem Stolz beseelt der junge Bursche gewesen ist, wie verkannt in seinen wahren Neigungen, sie hat als Mutter doch wissen müssen, wie sensibel und sogar labil Willie unter der zähen, kühlen Schale ist! Sie hat sich nie gegen ihren Mann zu stellen gewagt, auch wenn sie geweint hat, wenn der Vater den Sohn misshandelt hat. Vielleicht ist ihr einfach alles egal gewesen.
Und Willies Vater? Wie soll schon ein ehemaliger Fremdenlegionär, Spieler, komplexbehafteter, geltungssüchtiger Neureicher und Macho über einen Sohn wie Willie denken? Willies Vater wird niemals eigenes Versagen eingestehen. Für ihn gibt es nur einen Bedauernswerten und an jeglicher Familienkrise Unschuldigen: ihn selbst. Willies zwei jüngere Brüder hassen und verachten ihren Vater. Sie sind ihm aber niemals so sehr ausgeliefert gewesen wie Willie, der Erstgeborene. Willies jüngere Schwester hat jahrelang Spionin für den Vater gespielt, als dieser längst eine neue Familie gegründet und angefangen hatte, vorzugeben, die alte interessierte ihn nicht mehr. Gegen Bezahlung hat Willies Schwester dem Vater Nachrichten hinterbracht ...
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