Hier merkte die Wimmer an: „Da ist noch das psychiatrische Gutachten.“
„Ja, ja”, winkte Mühsam ab. „Der Wisch liegt uns vor, und wir werden ihn auch bei der Urteilsfindung berücksichtigen. Es liegt uns auch ein Gutachten vor, das von der Verteidigung in Auftrag gegeben wurde. Auch das werden wir berücksichtigen.“
„Das muss doch…“, begehrte die Wimmer erneut auf.
„Nein!“, schallte Mühsams Stimme herrisch laut durch den Raum. „Heute wird dieser Prozess beendet. Und wir werden heute auch das Urteil fällen und verkünden. Klaus Hummel ist seit fast einem Jahr inhaftiert. Drei Tage musste ich mir anhören, dass es viele Indizien, aber keine Beweise für Hummels Beteiligung an den Taten gibt. Andere mögen unser Gerichtswesen mit Talkshows verwechseln, aber meine Verfahren fallen nicht darunter. Haben Sie mich verstanden?“
Die beiden anderen Juristen ereiferten sich, in ihrer Gestik Zustimmung zu bekunden, während Steiner sich immer noch unbeteiligt gab.
Der Richter fuhr fort: „Für heute habe ich alle relevanten Zeugen erneut geladen. Sinn der heutigen Sitzung wird sein, dass ich, - wohlgemerkt ich persönlich -, noch einmal die kardinalen Fragen stellen werde, die dem Befragten und sonstigen Beteiligten vielleicht auch schon vorher in diesem Verfahren einmal gestellt worden sind. Von Ihnen, meine Dame und meine Herrn erwarte ich während meinen Interviews absolute Zurückhaltung.“
„Was soll es bringen, auf Wiederholung zu schalten?“, motzte die Wimmer. „Soll das etwa dem Beklagten die goldene Brücke zu einer Revision eröffnen?“
Bist du ein blödes Huhn, dachte Harald. Diese Wimmer schnallte einfach nicht, wie unbeliebt sie sich mit ihren dummen Sprüchen beim Richter zu machen drohte.
Mühsam blieb souverän. „Es ist nicht meine Aufgabe, mir über eine Revision Gedanken zu machen. Herrn Hummel kann nach unserem Urteil der Einspruch genauso wenig verwehrt werden wie Ihnen, Frau Staatsanwältin. Nur sehe ich nach Sachlage der Dinge nicht ein, wieso wir nicht heute zum Abschluss kommen sollten. Ich werde also meine Fragen stellen und mir die Antworten anhören, während Sie, Frau Wimmer und Herr Liebmann, schweigen. Sobald ich meine Befragungen beendet haben werde, überlasse ich es Ihnen, Fragen zu stellen. Dann werde ich Sie auffordern, Ihre Plädoyers zu halten.“
„Das ist aber äußerst ungewöhnlich”, sagte Liebmann.
„Was die Schlussworte angeht, mögen Sie Recht haben, Herr Verteidiger”, entgegnete der Richter. „Es ist allerdings der Entscheidung des Vorsitzenden vorbehalten, wann er die Plädoyers hören will. Da gibt es im Gesetz keine Dispens, die den Parteien einen Aufschub gewährt. Als Juristen müssten Sie immerhin gelernt haben, aus dem Stehgreif argumentieren zu können.“
Was der Richter da von Klägerin und Verteidiger verlangte, war außergewöhnlich, aber so, wie er es dargelegt hatte, gesetzeskonform. Üblich war, dass es eine letzte Sitzung gab, in der irgendwelche (un-)qualifizierten Experten ihren Senf beitrugen, bevor dann nach einer oder zwei Wochen Pause die mündlichen Vorträge der Plädoyers der beiden Parteien erfolgten. Und dann, wenn das Richterkollegium zufällig mal belustigt sein sollte, würde nochmals eine, zwei oder auch drei Wochen später ein Urteil erfolgen. Wenn Mühsam in seiner Funktion aber darauf bestand, alles an einem, und zwar an diesem Tage geregelt sehen zu wollen, brauchte er sich dafür bestimmt keine Genehmigung an höherer Stelle und erst recht nicht bei der Wimmer oder bei Liebmann einzuholen.
„Herr Steiner, haben Sie noch etwas beizutragen, was nicht zur Sprache gebracht worden ist?“
Harald musste hierauf einen negativen Bescheid geben, womit für Mühsam das Programm für die anstehende Sitzung endgültig feststand.
Zum Erstaunen aller, die an dem vorher im Richterzimmer geführten Gespräch nicht teilgenommen hatten, rief Ibrahim Mühsam den Angeklagten erneut in den Zeugenstand.
„Herr Hummel, an dem Tag, an dem Ihre früheren Arbeitgeber Wilfried Manherr und Walter Hack ermordet wurden, waren Sie noch keine 21 Jahre alt. Wenn es also heute zu einer Verurteilung kommen sollte, hängt das zu verhängende Strafmaß ganz klar von unserer Einschätzung ab, ob Sie zum Zeitpunkt der Morde als geistig erwachsen oder noch als Jugendlicher zu betrachten waren. Ist Ihnen das klar?“
Klaus Hummel, dem dieses Prozedere nicht ganz geheuer war, weil sein Rechtsbeistand ihm wenige Minuten vor Beginn der Verhandlung ins Ohr geflüstert hatte, Mühsam sei des Verfahrens überdrüssig und neige zum Freispruch, starrte, statt eine Antwort zu geben, den Richter verwirrt an.
Der reagierte behutsam auf Hummels Schweigen. „Sie haben meine Frage nicht verstanden?“
Klaus antwortete kleinlaut: „Nein.“
Der Richter erklärte: „Sollten wir Sie des zweifachen Mordes für schuldig befinden, droht Ihnen im ungünstigsten Fall fünfzehn Jahre Haft, insofern wir der Meinung sein sollten, Sie müssten unter das Jugendstrafrecht fallen, oder lebenslängliche Haft, wenn wir der Meinung sind, Sie fallen unter das Erwachsenenstrafrecht. Haben Sie es jetzt verstanden?“
„Ja, aber ich bin unschuldig.“
„Unschuldig, Herr Hummel?“, sprach Mühsam mit skeptischem Unterton. „Immerhin gibt es viele Anzeichen dafür, Sie könnten die Taten ausgeführt haben. Da wäre zunächst das Motiv. Wenige Wochen, bevor die Herrn Hack und Manherr ermordet wurden, sind Sie von Ihren beiden Arbeitgebern entlassen worden. Weshalb?“
Der junge Hummel kam sich vor, als sei er der Hauptdarsteller in Lola rennt oder in Und täglich grüßt das Murmeltier. In beiden Filmen durchlebt der jeweilige Protagonist mehrfach dieselben Situationen. Wieso sollte er jetzt erneut eine Frage beantworten, die ihm die Staatsanwältin schon einmal am zweiten Sitzungstag gestellt hatte? Sie zu beantworten, war ihm peinlich gewesen, und so war es auch jetzt wieder, weshalb er nun auch seine Antwort sehr knapp hielt.
„Ich bin mehrfach betrunken zur Arbeit erschienen.“
„Genau das hatten Sie bereits ausgesagt, und so haben es auch mehrere Zeugen bestätigt. Was noch nicht erörtert wurde, war das, was Sie ob Ihrer Entlassung empfanden. Können Sie uns das beschreiben?“
„Im ersten Moment hatte mich die Wut gepackt. Doch dann habe ich eingesehen, dass die beiden Recht hatten.“
„Seltsam”, äußerte sich der Vorsitzende. „Sie wollen das eingesehen haben, haben sich aber dennoch weiter volllaufen lassen. Das ist doch irgendwie unlogisch.“
„Das kommt auf die Situation an. Jetzt nach fast einem Jahr Haft, in der ich nichts mehr getrunken habe, finde ich das auch unlogisch. Aber damals trieb mich die Entlassung erst recht zur Flasche.“
„Also erneut in die Wut”, hielt ihm Mühsam entgegen.
„Ja…Nein. Ich weiß nicht mehr, was alles in mir vorging.“
Der Richter redete gleichmütig weiter. „Halten wir nur fest, es ist durchaus denkbar, dass Sie sich aus einer Alkohol bedingten Wut heraus zu mehr als dem berühmten Schmollen in der Ecke hätten aufraffen können.“
„Nein, nein, nein!“, rief Klaus. „Das habe ich nicht.“
„Das sind Ihre Worte, aber keine Beweise.“ Der Richter wandte sich an die vom Gericht bestellte Psychologin, die neben dem Staatsanwalt saß. „Frau Doktor Nadler, Sie haben nun schon über neun Monate Herrn Hummel, also seit seiner Verhaftung, betreut. Wenn ich nicht irre, haben Sie zum Thema alkoholisierte Straftäter Ihre Doktorarbeit geschrieben und haben auch darüber promoviert. Wie schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass Herr Hummel seinerzeit in seinem von Alkohol bedingten Unvermögen zu einer sehr ausgeklügelten Gewalttat befähigt gewesen sein könnte?“
Es war schon erstaunlich, dass der Richter über die fachspezifische Orientierung der Nadler Bescheid wusste. Normalerweise werden Gerichtspsychologen aufgrund ihrer Diplome, aber nicht aufgrund ihrer Befähigungen berufen. Die Leute von der Justiz bekümmern Befähigungen in der Regel wenig, wenn die Diplome von Universitäten ausgestellt worden sind. Für Juristen sind Sachverständige sachverständig, wenn sie ein beglaubigtes Diplom vorweisen können. Ob und für was genau sie sachverständig sind, ist ihnen kaum eine Nachfrage wert. Hauptsache sie sind für irgendein weitläufiges Fachgebiet auf der Liste gerichtlicher Sachverständiger eingetragen.
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