„Was genau verstehst du von der Seefahrt?“, wollte Amiel wissen.
„Nun, was die Bedienung des Schiffes angeht, bin ich eine ziemliche Null. Aber Karten und Kompass lesen, das liegt mir, ausserdem habe ich noch einige Zusatzsinne, die uns behilflich sein werden, den richtigen Weg einzuschlagen“, grinste er.
„Na gut, du verrückter Gefährte, dann zeig mir mal deine Karten, und wir machen das Schiff startklar.“
„Nur zu gerne“, sagte Dalin, winkte dem Caféinhaber und bezahlte. Dann gingen sie los. Unterwegs konnte er es sich nicht entgehen lassen, frischen Ziegenkäse und Brotfladen fürs Abendessen zu kaufen. Er schien ganz aufgeregt. Amiel vermutete, dass er das erste Mal mit auf einer Segeltour war. „Gott stehe mir bei“, sagte er leise vor sich hin und dachte an den alten Leon, der ihn bestimmt mit allen Kräften daran hindern würde, mit so einer Nussschale in den offenen Indischen Ozean zu stechen.
Sie bereiteten das Schiff vor. Amiel prüfte den Motor und die Segel. Erstaunt stellte er fest, dass das Schiff in einem bemerkenswert guten Zustand war. Im Innern des Schiffes befand sich ein kleiner Lagerraum, wo Essen und Material verstaut waren. Vorne beim Eingang waren zwei Schlafplätze, ein kleiner Esstisch und eine Kochstelle eingerichtet. Alles in allem schien das Schiff solide und vertrauenswürdig, wenn auch schnell klar wurde, dass es keineswegs für wochenlange Seereisen ausgestattet war.
Drei grosse, kräftige Afrikaner halfen ihnen dabei, das Boot auf die offene See hinaus zu stossen. Sie winkten und riefen ihnen fröhlich nach. Dalin lachte und dankte ihnen lauthals.
Amiel setzte sich ans Steuer und begann, die Koordinaten genauer zu prüfen. Er stellte das Ruder ein und überprüfte die Reisestrecke. Dalin drückte ihm eine Karte in die Hand. Verblüfft betrachtete er sie. Auf dieser Karte war tatsächlich eine grosse Insel eingezeichnet, die auf keiner Weltkarte zu finden war.
Sie lag im Herzen des Indischen Ozeans, ungefähr tausend Meilen nördlich der französischen subantarktischen Inseln und tausend Meilen südöstlich von Madagaskar.
An diesem Ort befand sich die Insel Noer. Amiel verglich Form und Grösse und stellte tatsächlich Ähnlichkeiten mit der Nordinsel Neuseelands fest.
Dalin steckte ihm zudem eine Karte zu, wo Noer in voller Grösse eingezeichnet war. „Da hast du was zum Studieren. Wirst sie auf deiner Reise bestimmt oft brauchen.“
Amiel sass eine ganze Weile beim Steuer und sah sich die Karte an. Auf der südlichen Hälfte der Insel war ein Gebirge zu erkennen, welches sich quer durch das Land zog und es von einer karge Wüstenebene im Süden abgrenzte. Der nördliche Teil machte den Anschein einer hügeligen Landschaft, die im hohen Norden zur flachen Ebene überging. Einige kleine Inseln umgaben das Festland.
Es wurde Abend. Um sie herum war nichts mehr zu sehen als der weite Ozean.
Dalin bereitete das Abendessen vor, und es roch nach Knoblauch und Basilikum. Amiel hörte, wie er munter vor sich hinpfiff. Er selbst sass auf dem Deck und beobachtete den Sonnenuntergang. Der Wind blies noch immer und die Wellen schlugen kräftig gegen den Bug. Die Sonne stand knapp über dem Horizont, und der Abendhimmel war klar und frisch.
Er dachte über all die Ereignisse dieses Tages nach. Er kam sich vor wie James Cook auf einer seiner Entdeckungsreisen. In gewisser Weise war dies durchaus vergleichbar.
Er war sich noch immer unsicher, ob er all dem wirklich Glauben schenken konnte. Er hatte nun sein Segelabenteuer, und das gab ihm zurzeit genügend Antrieb. Doch an der Mission selbst hatte er gehörige Zweifel. Wie sehr er sich auch den Kopf darüber zerbrach, es ergab keinen Sinn. Er hatte sich entschieden, diesem liebevollen, aber ausgeflippten Typen, der zweifelsohne über eine Menge übernatürliche Kräfte verfügte und behauptete, nicht wirklich zu den Menschen dazuzugehören, zu vertrauen. Wohin er ihn genau führen würde, wusste er nicht.
Er war auf einer Reise, soviel war klar. Niemand würde ihm das jemals glauben, aber er war nun mal hier. Dabei, eine ganze Reihe übernatürlicher Dinge zu entdecken, die er selbst kaum für möglich gehalten hätte. Warum hatte Dalin denn gerade ihn ausgesucht?
Was auch immer der Grund war, es gab kein Zurück mehr. Er entschied sich, sich darauf einzulassen, wenn er auch sehr daran zweifelte, dass diese Insel jemals auftauchen würde. Nach acht Tagen würden sie umkehren oder die Richtung ändern müssen, sonst steuerten sie in gefährliche, südliche Gewässer.
Sie hatten ein Funkgerät an Bord. Amiel hatte darauf bestanden, auch wenn Dalin drüber nur den Kopf schüttelte. Doch er wollte das Risiko nicht eingehen, da die See weiter südlich immer rauer und gefährlicher wird. Er hatte keine Erfahrung. Nie war er länger als fünf Tage auf dem offenen Meer gewesen und dies stets in Küstennähe.
Dalin servierte Amiel Pasta mit frischen Kräutern, Hühnchenfleisch und gebratenem Gemüse.
Er öffnete gekonnt eine Flasche Bordeaux und goss die Gläser ein.
Sie prosteten sich zu und hatten alle Mühe, den Wein bei den starken Wellen nicht zu verschütten.
„Ein begnadeter Koch, wie ich sehe“, bemerkte Amiel, dem das Essen sichtlich schmeckte.
„Oh das ist meine Leidenschaft“, antwortete Dalin und zwinkerte ihm zu.
„Ich bin mein Leben lang viel gereist und bin der Meinung, dass die grösste Kunst der Menschheit ihre Küche ist. Mmhh, welche Köstlichkeiten ich auf diesem Planeten gekostet habe, kann ich dir sagen. Jedes Land, jede Region hat ihre eigenen Rezepte! Das ist doch fantastisch!“
Genüsslich nahm er einen Schluck Wein. „Ich weiss ja, dass ihr ohne das rote Wässerchen nicht lange auskommen könnt, also habe ich dir einige Flaschen eingepackt. Ach ja, da du keine Gelegenheit hattest, deine Sachen zu packen, habe ich dir einiges mitgebracht.“ Er ging zurück in die Kabine und brachte einen beige-braunen Rucksack mit.
„Hier, das ist deiner.“
Amiel bedankte sich höflich. „Was ist denn da drin?“
„Na, einiges an guten Kleidern und Ausrüstung damit du für das Outdoorleben gewappnet bist. Glücklicherweise ist da unten gerade Frühsommer und es wird nicht all zu kalt werden. Die Leute sind ganz wunderbar und die meisten sehr gastfreundlich. Ums Essen musst du dir keine Sorgen machen. Sie sind sehr grosszügig.“
„Willst du mir denn nicht etwas mehr darüber erzählen? Ich meine, wo werde ich hingehen? Was werde ich da genau tun?“
„Ach, mach dir darüber nicht zu viele Gedanken. Das wird sich vom ersten Augenblick an ergeben. Ich habe keine Route für dich geplant, wenn du das meinst. Die Sache ist ganz und gar dynamisch.“
„Na super“, seufzte Amiel. „Wie lange wird das denn genau dauern? Die alten Fischer und meine Freunde werden sich irgendwann schon fragen, wo ich bin und in der Werkstadt stapeln sich meine Aufträge!“
Dalin trank das Glas leer. „Vergiss erst mal deine Pendenzenliste. Ich verspreche dir, du wirst zurück sein, bevor sie deine Wohnung zum Verkauf ausschreiben.“
„Sehr beruhigend“, brummte Amiel.
Es wurde dunkel. Beide studierten zusammen den Kurs, und Amiel zeigte Dalin, wie das Schiff zu steuern war. Sie beschlossen, sich alle drei Stunden abzuwechseln, und Amiel übernahm die erste Schicht.
Während Dalin unten friedlich schlief, sass er - die Kapuze fest ins Gesicht gezogen - oben auf Deck und betrachtete das fahle Mondlicht, das seine Spur in den weiten Ozean zeichnete. An diesem Abend fühlte er sich frei.
Am Morgen erwachte Amiel früh. Die Nussschale machte ihrem Namen alle Ehre, und die dünnen Pritschen liessen an Bequemlichkeit sehr zu wünschen übrig. Auch gelang es ihm kaum, wirklich tiefen Schlaf zu finden, da er wohl tief drinnen der Sache entschieden misstraute. So war auch sein Erwachen eine sonderbare Mischung aus Realitätsfremde und Abenteuerlust. Jedenfalls brauchte er eine ganze Weile, um sich seiner Lage gewahr zu werden und sich ihrer anzuvertrauen. Er rieb sich die Schläfen und reckte seine schmerzenden Glieder.
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