Ihre Hautfarbe war dunkel.
Amiel blieb einen Augenblick stehen und sah auf diese Kulisse, die ihm doch sehr unwirklich vorkam, welche aber ohne Zweifel real war. Er gab es auf, eine logische Erklärung dafür zu suchen. Es gab keine. Er konnte nicht mehr wegrennen, sondern musste zu jenem, der für all das verantwortlich war. Denn wenn er tatsächlich hier war, dann konnte Dalin nicht weit weg sein.
Er ging hinunter zum Hafen. Die Dorfbewohner sahen ihn prüfend an. Amiel fasste sich an den Kopf, die Wunde blutete noch. Er winkte ab um zu signalisieren, dass es ihm gut gehe. Da erblickte er am Ufer eine Gestalt.
Dalin war schon von weitem zu erkennen.
Er war damit beschäftigt, die Segel eines hölzernen, eher kleinen Segelbootes am eingezogenen Mast festzubinden. Das Schiff sah schon etwas mitgenommen aus, war aber ohne Zweifel eines der Schönsten im ganzen Hafen. Amiel erkannte vier Segel und sah, wie Einheimische Kisten an Bord trugen und sie in der Kajüte verstauten.
Amiel ging nun ohne Zögern auf Dalin zu.
„Nun Dalin, es gibt wohl keinen Zweifel daran, dass sie hinter dieser ganzen gespenstigen Angelegenheit stecken. Ich muss schon sagen, ich wusste bisher nicht viel von Zauberei, aber das hier ist doch ganz schön dreist. Mich gegen meinen Willen um die halbe Welt zu zaubern? Bitte, hier bin ich und ich will auf der Stelle eine Antwort auf all das haben.“
Amiel war überrascht, wie fest und klar seine Stimme war. Seine Wut war nicht zu überhören.
Dalin fuhr herum und sah ihn an. Dieses friedliche, sanfte Gesicht passte so gar nicht zu dieser ganzen, wirren Geschichte.
Er lächelte, wirkte fast schon beschämt, und seine Wangen waren leicht gerötet.
„Entschuldige, Amiel. Das ist eigentlich gar nicht meine Art. Ich dachte nur, dass es schwer zu ertragen wäre, wenn du dieses ganze Abenteuer verpassen würdest. Ich meine, es wäre ganz schön traurig, das Buch wieder zuzuschlagen und dir den Rest der Geschichte vorzuenthalten, die du doch immer zu verstehen begehrt hast.“
Er band die dicke Schnur fest um den Mast und kam vom Boot herunter.
So eigenartig es Amiel auch vorkam, er konnte diesem Mann nicht misstrauen. Wie wütend er auch war, er fühlte sich bei ihm gut aufgehoben.
„Komm, Freund“, sagte Dalin, „du hast nen Kaffee verdient nach den ganzen Strapazen.“ Er sah besorgt auf Amiels Kopf. „Blutet die Wunde noch? Darf ich mal sehen?“
Amiel liess ihn gewähren. Mit einem Tuch reinigte Dalin geschickt die Platzwunde. „Wird schon wieder. Tut mir echt leid! Der Abhang, den du dir da ausgesucht hast, war ganz schön steil!“
Amiel folgte ihm ins Dorf. In einem einfachen Kaffeehaus, wo ihnen ein Ventilator etwas kühle Luft zublies, machten sie Halt. Dalin bestellte Kaffee und Nüsse, dazu frische Früchte.
Beide genossen den kühlen Luftzug und sassen einen Moment schweigend da.
Dann begann Dalin wieder zu sprechen. „Hör zu, lieber Freund, mir ist klar, dass die ganze Sache mehr als verwirrend ist. Es ist tatsächlich ein heftiger Eingriff unsererseits in deine freien Entscheidungen, aber dies passiert bei solchen Wundern schon mal. Dennoch sollst du wissen, dass du frei bist, zurückzukehren, wenn du nicht mitkommen willst. Ich werde dich nicht zwingen, mit mir zu kommen. Ich bin auch kein Zauberer, der dir seinen Willen auferlegen wird. Ich bin einfach nur dein Freund.“
Amiel fasst sich nochmals an seine Stirn um zu sehen, ob es noch blutete. „Und wie bitte schön hast du das hingekriegt - ich meine - die ganze Reise nach Mosambik in wenigen Minuten? Es schaut mir doch ganz nach Zauber aus, denn alle andere Argumentation lass ich nicht gelten!“
Dalin presste die Lippen kurz zusammen und verzog seine Mundwinkel.
„Das ist leider nicht ganz einfach zu erklären mein Guter. Weißt du, ich kenne dich! Du bist ein feiner Kerl. Ich habe gesehen, wie du mit deinem Leben gehadert und dich mit komplexen Gedanken abgemüht hast. Ich habe mich immer schon gefreut auf den Tag, wo du diese Reise hier beginnst und diese Mühen ein Ende haben werden.
Wenn du zurückgehst, dann komme ich mit dir und wir beide vergessen das Ganze. Doch ich glaube, dass es an der Zeit ist, dass wir die Splitter deiner Erinnerung einsammeln und das Bild zusammenfügen.“
„Wer bist du?“, entfuhr es Amiel.
„Das Geheimnis dieser bevorstehenden Reise ist, dass ich dir keine schnellen Antworten geben werde. Niemand wird es. Am Ende jedoch wird es für dich mehr sein als eine Verstandeserkenntnis. Wie sagt man doch gleich: Wahrheit getrennt von Erfahrung wird immer dem Zweifel unterworfen sein.
Erfahrung ist ein guter Weg, seine Geschichte zu entschlüsseln. Eine Wahrheit soll erfahrbar sein, nicht nur erklärt. So bin ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als ein Reisebegleiter und Freund.“
Amiel kaute auf einer Nuss herum und wirkte nachdenklich.
„Dann sage mir, woher du das alles von mir weisst! Und erzähl mir von diesem Land, in das wir fahren werden. Deine Erklärungen sind mir zu dürftig, um mit dir wie ein Lebensmüder in die weite See hinauszustechen an einen Ort, den es nicht gibt!“
„Ich versichere dir, wir werden nach sechs bis acht Tagen festen Boden unter den Füssen haben“, antwortete Dalin.
„Das Land, das ich dir zeigen werde, ist ein Land der alten Zeit. Man könnte sagen, es ist eine Bühne der Geschichte. Eine wahre Freude für Entdecker, das kann ich dir versichern.
Ja, du hast recht. Noer gehört nicht zu dieser Welt, wie du sie kennst. Aber sein Schicksal spiegelt dein eigenes Leben. Dein eigenes Leben, deine Kultur und die gesamte Reise dieser Erde.
Was ich von dir weiss? Ich weiss, dass du träumst und dass dieser Traum dich niemals loslässt. Ich weiss auch, dass dieser Traum dich dahin führen wird, wo du das wieder finden wirst, was du verloren hast. Deine Erinnerung, Amiel. Du sollst dich erinnern und deine vergessenen Jahre zurückerhalten. Deine Reise wird dich an die Ränder dieser Erde führen und dir einen Blick darüber hinaus gestatten.
Deine Reise wird dich an den Anfang führen und dir einen weiten Ausblick gewähren in das, was kommen wird. Deine Geschichte wird in eine weit grössere hineinreichen, und durch sie sollst du die eigene wieder finden.“
Amiel lehnte sich zurück. „Ich nehme an, das ist alles, was du mir sagen wirst, nicht wahr?“
Dalin grinste breit. „Nun, so ist es. Nur das eine sollst du noch wissen: Die Geschichte, die ich dir erzählen werde, steht über Raum und Zeit. Sie verlangt von dir, dass du dich weit über das hinauslehnst, was die westliche Verstandeskraft voreilig beurteilt. Sie reicht weit tiefer. Also, ich frage dich: Wirst du mit mir kommen?“
Amiel seufzte und dachte angestrengt nach. Er rührte ziellos in seiner Kaffeetasse und schaute aus dem Fenster. Der Himmel war klar und flimmerte vor Hitze. Seine Hände waren klebrig und verschwitzt. Seine Gedanken aber waren nun klar und er spürte, wie aufregend er das alles fand. „Das hier ist mir ein echtes Rätsel. Ich weiss nicht, warum ich mich darauf einlasse. Im Grunde wäre mein grösster Wunsch ein ruhiges, normales Leben. Doch das wurde mir nie gewährt. Um ehrlich zu sein, das alles erscheint mir wie totaler Wahnsinn. Aber wie ich feststelle, weisst du viel über mich und das berührt und erschreckt mich. Ich würde gerne mehr über dich wissen. Wie es mir scheint, werde ich da aber nicht viel mehr erfahren. Ich kann nicht zurück, nachdem ich erkannt habe, dass meine Vergangenheit nicht nur ein leeres und nichtssagendes Unglück war. Wenn du mir sagst, dass das alles einen Sinn hatte, einen Grund, dann werde ich mitkommen und ihn suchen. Selbst wenn ich gerade an allem zweifle, was ich je für logisch und geregelt hielt. Du meinst also tatsächlich, dass wir da hin segeln können?“
„Ja, das meine ich. Das Schiff steht bereit, und ich denke, dass es gut wäre, wenn wir bald aufbrechen. Das Wetter ist gut, und es ist gerade Mittagszeit. Es bleiben uns noch einige Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit.“
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