„Guten Tag noch“, zischte Amiel und drehte ihm den Rücken zu. Mit schnellen Schritten ging er davon. Er hörte Dalin rufen. „Amiel, warte doch“, Doch Amiel wartete nicht.
Im Wald beschleunigte er seinen Schritt. Er konnte nicht abstreiten, dass ihm unbehaglich zumute war. Warum mussten immer ihm solche komischen Dinge passieren? Er, der doch so gerne ein ganz normales Leben geführt hätte.
Dann wurde er langsamer. Hie und da blickte er zurück, um zu sehen, ob dieser Typ ihm nicht auch noch folgte. Aber er war allein und langsam beruhigte er sich.
Irgendwann musste er laut lachen. Was für eine schräge Geschichte. Das alles war sehr verwirrend. Erst dieser Traum, dann all die alten Erinnerungen und Fragen und nun noch dieser Irre mitten im Wald. Das war ja mal wieder ein Tag. Er schlug den Weg zum Hafen ein. Er wollte jetzt nicht gleich in die Werkstatt. Er brauchte jetzt einen starken Espresso am Strandcafé, und dann würde er mit dem Boot rausfahren und fischen, um sich von all dem zu erholen.
Es war noch ein gutes Stück durch den Wald. Amiel erinnerte sich nochmals an Dalins Worte. Schon seltsam, was der alles über ihn wusste. Im Grunde äusserst unheimlich, dass ein Fremder all diese Dinge wissen konnte, die Amiel niemandem erzählt hatte. Ihm lief ein Schauer über den Rücken, und er blickte nochmals um sich. Wenn dieser ihn nicht gerade auf eine Schiffsfahrt in die Antarktis eingeladen hätte, dann wäre die Sache mehr als spannend gewesen.
Einen kurzen Moment stieg eine Sehnsucht danach in ihm hoch, all die Fragen beantworten zu können, um sie irgendwann hinter sich zu lassen. Gerne hätte er jemandem von allem erzählt: der ungeklärten Kindheit, dem Traum und der Geschichte seiner Familie.
An diesem Mann war etwas Geheimnisvolles. Etwas, was ihn vertrauenswürdig machte und in Amiel das Bedürfnis weckte, ihn in die eigenen Gedanken einzuweihen.
Einen Moment lang wollte er umkehren und zu Dalin zurückgehen. Vielleicht hatte er diese Chance nur dieses eine Mal. Er blieb stehen. Um ihn herum war es merkwürdig still.
Sollte er nochmals hingehen? Diesen komischen Vogel zum Kaffee einladen und ihm Fragen stellen? Er hätte wirklich viel mehr Fragen stellen sollen, dachte er. Im Grunde wusste er nichts über diesen Mann. Doch nein, das Ganze war ihm zu unheimlich.
Er ging weiter.
Plötzlich fuhr er zusammen. Mitten auf dem Pfad, auf einem Baumstrunk, sass ein kleiner, blonder Junge. Er strahlte Amiel an und baumelte mit den Beinen in der Luft.
Amiel überkam eine Gänsehaut und gleichzeitig fühlte er sich von diesem Kind angezogen. Es war irgendwie anders. Was machte es hier, alleine und mitten im Wald?
„Was machst du denn hier?“, sprach er ihn an.
„Ich zeige dir den Weg!“, meinte der Junge.
„Welchen Weg?“, fragte er.
„Deine Heimreise.“, antwortete das Kind und sah ihn mit grossen Augen an.
Amiel spürte einen stechenden Schmerz im Kopf. Das Gehirn rebellierte. Er rieb sich mit den Zeigefingern in den Augen um den Schmerz zu beheben. Als er sie wieder öffnete, war der Junge verschwunden.
Als Teenager mochte Amiel diese Gruselgeschichten. Beim Zelten am Lagerfeuer. Nie hätte er gedacht, selbst mal Zeuge einer übernatürlichen Begegnung zu werden.
Er sah sich lange um. Das Kind war weg. Es konnte unmöglich davongelaufen sein in dieser kurzen Zeit. Etwas ging hier vor sich.
„Kind? Wo bist du? Welche Heimreise? Ich verstehe nicht?“
Es blieb ruhig.
Er setzte sich auf den Baumstrunk. Die Schläfen hämmerten, sein Herz schlug wie eine innere Faust gegen seine Brust.
Das Kartenhaus zerfiel. Er begriff nichts mehr. Die Formen vermischten sich, verhakten sich ineinander und vor seinen Augen entstand ein heilloses Durcheinander.
Er stand auf und ging weiter. Es musste sein Schicksal sein, ein hilfloser Träumer zu bleiben, der nicht zum Rest der Gesellschaft passte. Das normale, stille Leben blieb ihm verwehrt. Etwas war von der Ferne wieder an ihn herangerückt, war mitten in sein Leben getreten und er wusste, dass Dalin recht hatte. Der Zeitpunkt war da.
Er begann zu rennen. Er musste seine Glieder bewegen und seinen Körper spüren. Er rannte und rannte ohne zu ermüden, bis er plötzlich den Boden unter den Füssen verlor.
Er fiel. Der Waldboden endete abrupt auf einer Anhöhe, die er nicht bemerkt hatte, und fiel dann ab. Amiel stürzte über einen Stein und fiel einige Meter den steilen Hang herunter. Dumpf schlug er mit der Seite auf dem Boden auf. Sein Kopf prallte gegen einen Baum und er sah nur noch kalte, weisse Punkte. Dann schwanden seine Sinne.
„ Sag deinem Herzen, dass die Angst des Leidens grösser ist, als das Leiden selbst.
Und kein Herz hat jemals gelitten, wenn es sich auf die Suche nach seinen Träumen gemacht hat.“
Paulo Coelho („Der Alchimist", 1996)
Amiel spürte ein Hämmern erbarmungsloser Intensität in seinem Kopf von. Dann stechender Schmerz und eine bleierne Schwere. Er fasste sich an den Kopf. Die Beule war erschreckend gross und er spürte Blut seine Haut wärmen. Langsam drang Licht zu ihm durch, und er öffnete die Augen.
Die Sonne schien ihm mitten in sein Gesicht und blendete ihn. Er schloss die Augen. Sein Körper schmerzte und er beschloss, noch einen Moment still dazuliegen. Von weit her hörte er Stimmen. Es war auf einmal entsetzlich schwül und heiss, der schattige Baum war verschwunden.
Wieder ertastete er seine Kopfwunde. Wird nicht so schlimm sein, dachte er. Er hatte wohl noch einmal Glück gehabt. Dieser Sturz war ganz schön heftig gewesen. Kein Wunder, wenn man wie ein Irrer durch den Wald rennt, ohne zu schauen, wo die Füsse gerade hintreten.
Wieder schlug er die Augen auf und beschirmte sie mit der Hand. Wie seltsam, dachte er. Von dem Wald war keine Spur mehr zu sehen. Er befand sich in einer kargen Landschaft mit Steinen, Staub und Büschen. Er versuchte, sich aufzusetzen. Das Stechen in seinem Kopf wurde wieder heftiger, und er stöhnte auf.
Langsam gewöhnten sich seine Augen an das grelle Sonnenlicht. Er zog seine Jacke aus und krempelte die Hosen hoch. Die Hitze war ungewohnt, und er hatte Durst. Wo war er bloss?
Wieder sah er sich um. Die Erde war kupferfarben, teilweise fast rötlich. Der Boden war trocken, und nur wenige Pflanzen gediehen in dieser Landschaft. Er horchte. In der Nähe mussten Menschen sein, das konnte er hören. Ein kräftiger Wind blies ihm um die Ohren.
Was war dies schon wieder für eine Zauberei, dachte er. Wie konnte er stürzen und an einem anderen Ort wieder zu sich kommen? War dafür dieser Dalin verantwortlich?
Ein äusserst beunruhigender Gedanke kam ihm. Konnte es denn sein, dass....
Er sprang auf - etwas zu eilig für seinen Zustand - und ein heftiger Schmerz durchfuhr seine Knochen. Doch nun war es ihm egal. Er klopfte sich den Staub von seinen Kleidern und sah sich genauer um. Ein kleiner Pfad lag da zu seiner Rechten. Er eilte voran, von einer gänzlich beklemmenden Vorahnung getrieben.
Schon bevor er die Küste sah, wusste er mit völliger Gewissheit, wo er war.
Und so war es. Der Pfad zog sich über einen Hang und ging auf einmal steil hinunter. Das weite Meer tauchte vor ihm auf und kräftige Wellen schlugen ans Ufer. Ein Dorf war nun zu sehen. Ohne Zweifel kein europäisches. Amiel wurde ganz benommen vor Verwunderung.
Da war er also, der Hafen. Schön und zierlich, fast wie in einem Bilderbuch sah er aus. Viele Schiffe aus Holz, alte Fischerboote, Ruderboote und Segelschiffe waren an mehreren langen Holzstegen befestigt. Daneben sah er ein buntes Treiben von Menschen. Ein Markt musste es sein. Amiel sah Wagen mit Gemüse und Handelswaren, die wirr durcheinander auf dem Hafenplatz standen, und eine beträchtliche Anzahl von lachenden, laut feilschenden und diskutierenden Menschen.
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