Der Mann winkte ab. „Nenn mich bloss nicht beim Sie, da komm ich mir ja ganz grau vor. Nee, ich komme nicht von hier, da hast du recht. Meine Heimat ist ganz schön weit weg, und ich bin schon eine Weile auf Reisen. Komm, setz dich. Hast ne Pause verdient.“
Amiel setzte sich neben den Mann auf einen Stein.
„Um ehrlich zu sein, kam ich hierher, um dich zu treffen...“, sagte dieser aus heiterem Himmel. Amiel sah ihn verwundert an. „Nun, da hast du ja Glück gehabt. Bin nämlich selten um diese Uhrzeit hier anzutreffen. Wie ist denn dein Name?“
„Nun Amiel, am besten nennst du mich Dalin. Den mag ich am liebsten. Bedeutet „Freund" in der alten Sprache.“
Amiel war überrascht. „Und woher kennst du meinen Namen und weisst, wann ich wo zu finden bin?“
Dalin lachte. „Ich weiss, die Sache ist ganz schön verwirrend. Sagen wir mal, dass unser Treffen im Grunde längst überfällig war, doch warte ich am liebsten auf den richtigen Zeitpunkt, und wie mir scheint, ist dieser heute Morgen.“
Die Sache wurde Amiel etwas ungemütlich, und er sah sich verstohlen um, ob da noch irgendetwas oder irgendjemand zu sehen war. Doch es schien alles ruhig. Der Mann sah noch immer harmlos und friedlich aus und machte nicht den Anschein eines verwirrten Irren oder gewaltsamen Übeltäters. Die Sache war indes recht kurios.
„Also, wovon sprichst du genau?“, wollte er wissen.
„Manchmal sagen sie mir, ich sei ein guter Traumdeuter.“, sagte Dalin geradeheraus.
Amiel zuckte zusammen. Er sah Dalin prüfend und erschrocken ins Gesicht. Für einen Moment verschlug es ihm die Sprache.
„Traumdeuter?“, kam es ihm stockend über die Lippen.
Dalin legte das Holzstück, an dem er gerade arbeitete, weg und klopfte sein Hemd aus. Die Holzreste fielen zu Boden. Dann sah er Amiel direkt in die Augen.
„Mein Freund, ich weiss, dies ist alles ganz fürchterlich verwirrend. Es wäre ganz schwierig, dir jetzt gleich alles zu erklären. Um etwas Neues zu verstehen braucht es seine Zeit. Deshalb macht es keinen Sinn, dich mit allen Hintergründen gleich voll zu texten. Aber du kannst mir voll und ganz vertrauen. Ich bin gekommen, um dich auf deiner bevorstehenden Reise zu begleiten.
Die Zeit ist gekommen, ein altes Geheimnis aufzudecken, worauf du lange gewartet hast. Wenn ich ein guter Traumdeuter sein will, dann führe ich dich mitten durch die Geschichte hindurch, anstatt sie dir einfach in unpersönlicher Weise vorzubuchstabieren. Denn die Geschichte ist ja mehr als persönlich, und dieser Traum hat schon eine umfängliche Antwort verdient.“
Amiel musste sich einen Moment am Stein festhalten. Er sah diesen Fremden an, hinein in seine tiefgrünen, schimmernden Augen.
War das, was hier gerade vor sich ging, denn möglich? Etwas Übernatürliches rückte in die Form des Natürlichen, ganz unmittelbar und ohne Vorwarnung. Das war zu viel für sein Gehirn. Selbst wenn er diese Dinge nicht ausgeschlossen hatte, passten sie so gar nicht in seine Wahrnehmung. Alles schien ihm verschoben.
Konnte es denn tatsächlich sein, dass es eine Antwort auf seine Fragen gab? Dass jemand ihn kannte und sah, wie er sich den Kopf darüber zerbrach?
„Ich verstehe nicht... seine Stimme war unsicher und überschlug sich ein wenig. „Du kennst mich?“
„Natürlich!“, antwortete Dalin. „Du bist ein ganz fantastischer junger Mann und ich konnte es kaum erwarten, dich endlich zu treffen. Wollte dir schon lange sagen, wie toll ich deine Angelrutensammlung finde. Vielleicht kannst du mir ja was beibringen?“ Er zog den Holzstab wieder hervor. „Schau mal, ich wollte eine spezielle Hochseefischerrute basteln. Bin wohl nicht gerade ein Talent. Aber wir werden eine brauchen. Vielleicht bringst du morgen besser eine mit.“
„Wofür denn? Wohin willst du mich mitnehmen?“
Erstaunt sah ihn Dalin an. „Ja hast du denn meinen Brief nicht bekommen?“
Amiel dachte nach. „Meinst du diesen seltsamen Brief mit den Koordinaten? Ist der etwa von dir?“ Dalin strahlte. „Musste ganz schön rechnen, das kann ich dir sagen. Faszinierend, diese Seefahrt. Die Menschen haben sich schon echt was ausgedacht. Ich bin wirklich sehr froh, dass du so gut Bescheid weisst. Wäre ich der Kapitän, könnte wohl einiges schiefgehen.“
Die Sache wurde Amiel echt zu viel. Was für ein seltsamer Morgen. Am liebsten wäre er weggerannt oder, noch besser, im Bett geblieben.
„Du willst mir also sagen, dass wir zusammen irgendwohin reisen?“, sagte Amiel sichtlich verwirrt. „Ganz genau, mein Freund. Ich hab uns ein prima Segelschiff gekauft. Steht schon am Hafen, die Arbeiter machen es gerade startklar. Ich habe schon alles eingepackt. Proviant für zwei Wochen, man weiss ja nie, wie lange wir genau brauchen. Wasser und Karten und ein paar Flaschen Wein und Spielkarten für die Abende.“
Amiel fand das nun beinahe amüsant. „Nun, mein werter Herr, ihre Rechnenkünste sind nicht gerade die Besten. Für die Route, die du mir da markiert hast, werden wir noch einiges mehr an Gepäck brauchen. Zum Beispiel Tonnen an Wollpullovern und langen Unterhosen, weil wir nämlich mit grosser Wahrscheinlichkeit halb verhungert an der arktischen Küste Anker legen und Pinguine jagen müssen, um zu überleben.“
Dalin hob eine Augenbraue. „Nee nee, mein Freund, wir werden es schon nicht verpassen. So weit südlich werden wir nicht kommen, da vertraue ich ganz auf deine Kenntnisse als Seefahrer. Noer liegt einige tausend Kilometer weiter nördlich.“
„Noer?“, fragte Amiel.
„Noer, genau. So heisst unser Ziel. Eine stattliche Insel mitten im Ozean. Ein bisschen kleiner als Neuseeland, aber es hat doch gewisse Ähnlichkeiten. Dahin werde ich dich bringen und dir die Geschichte von deinem Traum erzählen.“
„Bei allem Respekt, ich bin nicht auf den Kopf gefallen. Ich habe Jahre von Schulbildung hinter mir und bin ein begeisterter Fan der Geographie. An diesem Ort gibt es nichts, aber auch gar nichts. Von einer solchen Insel habe ich nie gehört“, meinte Amiel.
Dalin lächelte nur. „Nun, nicht alles, was nicht sichtbar ist, ist tatsächlich auch nicht da. Ihr wisst ganz schön viel, das ist mir schon klar. Doch da gibt es noch einige kleine Lücken.“
Amiel stand auf. Diese Unterhaltung ging ihm zu weit. Was für ein Verrückter war der denn? Er würde ja bestimmt nicht so blöd sein, mit einem wildfremden, esoterischen Hippie ins Nichts hinaus zu segeln auf der Suche nach irgendeinem fernen Sagaland. Ganz egal, was der alles über ihn wusste, ein bisschen Menschenverstand war ihm doch noch erhalten geblieben, und er hatte echt andere Probleme. Er kannte diese Möchtegernwahrsager. Heute fahren ja alle auf die ab. Doch er war nicht dafür zu begeistern. Er war jemand, der mit beiden Beinen auf dem Boden stand. So schnell liess er sich davon nicht abbringen. „Was für ein komischer Kauz“, dachte er bei sich.
„Nun, Dalin, herzlichen Dank, aber dafür interessiere ich mich echt nicht.“ Dalin wirkte etwas überrascht.
„Nun lauf mal nicht so schnell weg, junger Mann. Wie ich schon sagte, ist mir klar, wie absurd das alles klingt, doch ich kann dir versichern, du wirst mich bald verstehen.
Ich habe alles vorbereitet. Ich dachte mir, am besten fahren wir von Mosambik los, das ist eine gute Strecke. Von da aus sollten wir etwa sechs Tage brauchen bis Noer. Der Wind wird günstig sein und ich habe gewisse Fähigkeiten, die gewohnten Gesetzmässigkeiten etwas zu beschleunigen. Etwa 45 Kilometer südlich von Maxixe, einer der grösseren Städte, ist ein kleiner Fischerhafen. Da hab ich unser Boot. Wir treffen uns morgen da. Ich werde auf dich warten.“
Amiel blieb einige Sekunden lang mit offenem Mund vor ihm stehen. Was für ein durchgeknallter Vogel. Nach Mosambik. Das fehlte ihm gerade noch. Dies war nun eindeutig das Ende dieser verrückten Unterhaltung.
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