Wenn Amiel heute an sie dachte, wurde ihm klar, welche Sorge sie um ihn getragen haben musste.
Natürlich hatten sie ihre Hypothesen, Ängste und Annahmen betreffend seiner Vergangenheit. Wurde ihm Gewalt zugefügt? Welche Art Trauma konnte einem Jungen widerfahren sein, dass er sich an keine Silbe seines vorgängigen Lebens mehr erinnerte? Natürlich fragten sie ihn immer mal wieder, ob er sich an etwas erinnerte. Seine Mutter tat dies mit aller Vorsicht und mütterlichem Feingefühl, doch Amiel sah die Verwirrung in ihrem Gesicht, als auch beim Eintreten seines 7. Lebensjahres kein Funke an Erinnerung zurückkam.
Seine Eltern beobachteten ihn genau, unterstützten ihn auf alle erdenkliche Weise und konnten ihre Zweifel doch nicht ganz verbergen. Verheimlichte er ihnen etwas? Gab es mehr als er erwähnte? Er konnte beobachten, wie die Frage seiner Identität seine Eltern ebenso bedrängte wie ihn selbst. Doch er verheimlichte Ihnen nichts. Ihnen zuliebe verbrachte er manchen Nachmittag, an dem seine Kameraden auf dem Dorfplatz Fussball spielten damit, im selbstgebauten Baumhaus ihres Gartens zu hocken und nachzudenken. Ihnen zuliebe hätte er so gerne eine Antwort gefunden. Doch es kam keine.
Die befürchteten Spätfolgen blieben aus. Er wurde psychiatrisch abgeklärt, doch gab es - bis auf seine träumerische, etwas verschlossene Lebenshaltung - keine Hinweise auf psychische Auffälligkeiten. Er entwickelte sich normal und zeigte - bis auf die biographische Eigenart - keinerlei Störungen. Anfangs war er ein sehr fröhliches, wenn auch ruhiges Kind. Erst im Laufe der Jahre, und mit wachsender Verwirrung über seiner eigenen Geschichte, kam eine gewisse Dunkelheit wie ein langsam aufziehender Schatten über ihn. Er war Amiels geheimer Begleiter und dieser hielt beharrlich jedem Versuch stand, sich seiner zu entledigen.
Der Traum jedoch kam zurück. Manchmal alle paar Wochen, dann blieb er eine Weile aus und kam erneut. In gewisser Weise hasste Amiel diesen Traum, denn immer erinnerte er ihn unmittelbar an seine Lebenswunde. Zugleich aber liebte er ihn! Es gab nichts, was ihm herrlicher vorkam als die Bilder dieses seltsamen Landes. Es war sein Schutzort, sein Geheimnis. An jenem Ort war er geborgen und leicht, ganz und gar sich selbst.
Die Mystik dieses Traumes begeisterte ihn und er sann oft darüber nach. War ihm dieser Ort bekannt? Wohnten dort vielleicht seine vergessenen Eltern? Warum gab es diesen Traum und was wollte er ihm sagen?
Als Kind stellte er sich oft vor, an jenem Ort zu sein. Irgendwo ein Haus zu finden, wo ein Cheminéefeuer brannte und ein gedeckter Tisch in der Küche stand. Am Tisch sassen seine erträumten Eltern, seine Brüder und Schwestern. Dort hatte er eine eigene Familie, zu welcher er gehörte.
Mit 10 Jahren hatte Amiel genug von dieser elenden Grübelei. Er beschloss, das alles hinter sich zu lassen und mit Tagträumereien aufzuhören. Das Nachdenken wurde ihm zuwider und er hatte fest vor, das Leben nicht mehr an seine Vergangenheit zu verschwenden.
In diesem Jahr kam sein Bruder Lyon zur Welt. Alles stand auf dem Kopf. Die Eltern waren zutiefst überrascht, denn schon seit Jahren war ihnen klar, dass sie niemals eigene Kinder bekommen konnten. Lyon jedoch schaffte es, sich durch die medizinische Unmöglichkeit hindurch zu schleichen und brachte grosse, unerwartete Freude in die Familie. Auch für Amiel, denn er hatte sich sehnlichst einen Bruder gewünscht. Selbst wenn dieser ein kleines Baby war und kein ebenbürtiger Spielkamerad, kümmerte er sich rührend um Lyon und platzte oft fast vor Stolz über seinen hübschen Bruder. Die Eltern waren hocherfreut über dieses Geschenk. Es war wie ein frischer Frühling und die sorgenvolle Aufmerksamkeit gegenüber Amiel wurde durch die neue Aufgabe abgelenkt. Über diese gegebene Distanz zu seiner Herkunftsgeschichte war er äusserst dankbar.
Versunken in all diesen Erinnerungen war er am Fluss angekommen. Der Waldboden war übersät mit farbigen Blättern, alles war still und andächtig. Sein Vater war ein begnadeter Pilzesammler und hatte ihm vieles beigebracht. Wie oft waren sie im Wald und suchten nach Pilzen. Er mochte die Naturverbundenheit seines Vaters. Schon sehr früh brachte er ihm das Fischen mit der Angel bei und gelegentlich durfte er mit zur Jagd.
So fand er auch an diesem Morgen einige Pilze, die er zufrieden einsteckte. Er kochte ganz gerne und freute sich auf ein gutes Abendessen. Er begann, nach passenden Kräutern zwischen den Gräsern zu suchen.
Lyon wurde kürzlich 15 Jahre alt. An seinem Geburtstag reiste Amiel seit langen wieder einmal nach Hause. Es war schön zu sehen, welche Fortschritte Lyon machte und wie sehr er sich darüber freute, seinen Bruder zu sehen. Es rührte Amiel tief und er war selber immer wieder überrascht, wie viel Liebe für Lyon in ihm aufstieg, wann immer er ihn sah. Und wie viel Schmerz!
Jahre zurück, als Lyon gerade mal 3 Jahre alt war, änderte sich alles. Amiel wollte nicht daran denken. Er ertrug es schlichtweg nicht.
Es war einer dieser grauen Tage im November. Seine Mutter besuchte eine kranke Arbeitskollegin und bat Amiel, mit Lyon spazieren zu gehen.
An jenem Tag wandelte sich etwas, was sich langsam in seinem Innern angebahnt hatte. Denn sein kleiner Bruder wurde grösser, begann zu laufen und zu sprechen. Amiel beobachtete die Entwicklung seines Bruders, wie fröhlich und unbeschwert er war und wie er jedes Herz im Sturm erobern konnte.
Obwohl seine Eltern sich alle Mühe gaben, Amiel dieselbe Aufmerksamkeit zu schenken war es eine unausweichliche Realität, dass er niemals in derselben Weise zur Familie gehören würde, wie Lyon. Der Gedanke schlich sich ein, ihnen lästig zu sein und unterschwellige Wut begann sich breit zu machen.
Die Jugendjahre brachen an und erneut kamen Selbstzweifel auf. Lyon wurde auf einmal zur Bedrohung, denn er kannte seine Herkunft und ging mit einer so offenherzigen, friedlichen Haltung auf die Welt um sich herum zu. Amiel selbst kannte diesen Frieden nicht. Er spürte, wie Verbitterung ihn antrieb und seinen sonst fröhlichen Geist beschwerte und an gewissen Tagen fühlte er eine Art kalte Hand schwer auf seinen Schultern liegen. Er war anders als alle anderen.
An diesem Tag brach das Kartenhaus zusammen. Während er seinen kleinen Bruder im Kinderwagen die Strasse entlang schob, kam nichts als pure Verzweiflung und einen nie gekannten Ärger über ihn. Er wollte Frieden, eine Heimat, die nur ihm gehörte und die er nicht zu teilen brauchte. Er wollte bedeutend sein, in ihm schrie es nach Anerkennung und Wert, ohne diesen ständigen Unterton von Bemitleidung. Er hatte genug davon, sich allem anzupassen und doch nirgends dazuzugehören.
Wütend war er, zum Zerspringen wütend. Die Rolle des armen, verlassenen Kindes legte ihn in Ketten und er war bereit, alles zu tun, um diese abzuschütteln.
Dann fiel sein Blick wieder auf den friedlich schlafenden Bruder- unbeschwert und geborgen- und sein Gegenüber wurde ihm zum Feind. Er fühlte nur noch Eifersucht und Abscheu.
Mit grosser Wucht stiess er den Kinderwagen den steilen Hang hinunter, auf dem sie beide standen. Und ohne die geringste Gefühlsregung sah er mit an, wie der Wagen schneller und schneller wurde, sich überschlug und sein Bruder mit einem Schrei herausgeschleudert wurde und mit voller Wucht gegen den harten Asphalt prallte.
Erst einige Sekunden später, als Amiel realisierte, dass Lyon weder weinte noch schrie, sondern ganz stumm und reglos am Boden lag, kam Panik in ihm hoch. Wie versteinert stand er da, als ihm die volle Konsequenz seiner Tat bewusst wurde.
Dann rannte er hin zu seinem Bruder, von dessen kleinem Köpfchen Blut über den Asphalt floss.
Mit einem Schrei hob er ihn hoch und rannte so schnell ihn seine Beine trugen zum nächsten Haus. Schreiend und voller Verzweiflung hämmerte er an die fremde Türe, wie in Trance versunken.
Читать дальше