Schon immer träumte Amiel vom offenen Ozean und begann bald als Fischverkäufer und Bootsmechaniker zu arbeiten. Ausserdem hatte er in seiner Werkstatt alles Mögliche herumstehen, das ihm die Dorfbewohner zur Reparatur brachten. Das Handwerk hatte ihm stets gelegen.
Die Luft war kühl und liess keinen Zweifel, dass der Sommer sich Richtung südliche Hemisphäre bewegte. Wie jedes Jahr kam mit dem harschen Wind, den kürzer werdenden Tagen und dem morgendlichen Nebel ein Hauch von Wehmut auf.
Jedoch war es zweifellos Amiels liebste Jahreszeit. Sie erinnerte ihn an die Tage der Weinernte, die er als Kind in seiner Heimat miterlebte. Die vielen fröhlichen Stunden gemeinsamer Arbeit und abendlichem Feiern, wo es an gutem Essen, Tanz und Gesang nie mangelte.
Er nahm den bekannten Weg. Die Fischer waren längst auf See und brachten den Tagesfang ein. Das Dorf erwachte. Die Bäcker öffneten ihre Rolläden und der verlockende Duft von frisch gebackenem Brot und Croissants stieg ihm in die Nase. Die Marktfrauen schrubbten den Marktplatz und begannen, Eier und Gemüse aufzutürmen. Autos wurden herbei gefahren, Ware wurde ein- und ausgeladen, in der Schreinerwerkstadt ging das Licht an und zwei kleine Hunde jagten eine Katze mit viel Gebell um den Häuserblock.
Amiel liebte die kleine Stadt, so verschlafen und ein wenig altmodisch wie sie war. Doch hat sie all die Jahre ihren alteuropäischen Charme bewahrt und war mächtig stolz auf ihre winzige, aber schmucke Altstadt.
Sie war berühmt für ihre Steinhäuser mit den alten Ziegeldächern und den verzierten Dachgiebeln. Die Häuser der Altstadt waren ringförmig angelegt. In ihrer Mitte befand sich ein stattlicher Kirchplatz mit Pflastersteinen bestückt und einem alten Dorfbrunnen, den die Frauen im Sommer stets mit frischen Blumen schmückten.
Die Kaffeehäuser waren weit herum bekannt und der allmorgendliche Markt war ein beliebter Treffpunkt für Dorfklatsch und politische Unterredungen. An zwei Tagen die Woche verkaufte Amiel Fisch und war stets amüsiert, den heftig gestikulierenden Dorftanten beim Austausch ihrer neusten Schnäppchen und Skandalberichten zuzuhören.
Es gab nicht viele, die hierherzogen und Amiel brauchte seine Zeit, um das Wohlwollen der alteingesessenen Herren zu gewinnen.
Die Stadt war fern von Metropolen und Mode Erscheinungen. Irgendwo an einer vergessenen Küste, wo der Wind die meisten Besucher vom längeren Verweilen fernhielt. Doch die Menschen hier waren damit vertraut und nahmen es gelassen. Hie und da dachte Amiel daran, ein Leben in Paris oder Wien zu starten, doch waren ihm die runzligen Gesichter zu lieb und die See zu wild, um das alles zu verlassen. Er hatte gute Freunde gefunden und liebte die gesellschaftlichen Abende mit Bier und Männergesprächen, welche hier tief verwurzelte Kultur waren. Es war ein fröhliches und zugleich raues Volk, wie das Meer und die Fischerei es nun mal hervor bringen.
Amiel mochte diesen Weg. Ein kleiner Pfad, der sich Kilometer um Kilometer dem Fluss entlang zog und einem das Gefühl gab, weit in der Wildnis Kanadas verloren zu sein. Nur selten traf er hier auf andere Menschen. Dies war sein liebster Ort und sooft er die Möglichkeit hatte, kam er hierher, sass mit seiner Angel stundenlang auf den grossen Steinen, wanderte oder joggte bis über die Brücke und zurück. Das war seine Zeit zum Nachdenken und Träumen. Ein verkappter Philosoph nannten ihn seine Freunde mit einem Augenzwinkern. Vielleicht war er das, vielleicht auch einfach ein junger Mann, der die Natur liebte und hie und da ein Fleckchen Abgeschiedenheit suchte.
Und der manchmal - wie an diesem Morgen - zurückgeworfen wurde in eine alte Geschichte und in ein Gewirr von Fragen und Erinnerungen, die er verzweifelt zu zuordnen versuchte.
Er grub die Hände tief in seine Jackentasche, denn ihm war kalt. Er hielt an und betrachtete die Flussbiegung, die nun unten am Hügel zu sehen war. Wie er diesen Anblick liebte! Der Nebel lag über dem Fluss und bildete einen geheimnisvollen Hauch von Herbst. Er brach das goldene Morgenlicht wie durch trübes Glas, vollkommener als das Werk jedes Künstlers.
Da fand er sich wieder in den Bildern dieses Traumes, die ihn schmerzlich an der Hand nahmen, und zurückführten in ein vertrautes, ungelöstes Rätsel.
Er erinnerte sich ganz genau. Wann immer er in den Spiegel schaute, kamen Fragmente eines alten Lebensfilmes klar und deutlich vor seine Augen. Viel hätte er darum gegeben, sie endlich von sich zu schütteln, denn er war sie leid und sah keinen Sinn darin, sie Jahr für Jahr mit sich herumzutragen.
Es gelang ihm nicht.
Er war nicht wie alle Anderen.
Er war ein junger Mann, dessen Herkunft niemand kannte. Auch er selbst nicht. Er hatte keine Vergangenheit, zumindest fehlte ihm jegliche Erinnerung daran.
Der Traum der vergangen Nacht war Amiel bekannt. Das Erste, an das sich Amiel in seinem Leben überhaupt erinnern konnte, war exakt derselbe Traum, in voller Intensität und Klarheit.
Er erinnerte sich, wie er damals die Augen aufschlug und sich als fünfjähriges Kind alleine am Waldrand vorfand. Niemand war da und während Stunden sass er starr an Ort und Stelle. In seinem ganzen Leben hatte Amiel nichts Schrecklicheres erfahren, als diese ersten Stunden.
Er erinnerte sich an die völlige Orientierungslosigkeit und Ohnmacht, die es ihm unmöglich machten, in irgendeiner Weise zu agieren. Er sass nur da und fühlte Entsetzen.
Geblieben war ihm nichts als nur dieser Traum, nichts als eine graue Decke und das Gefühl, nackt und bloss im Nirgendwo steckengeblieben zu sein. Keine Erinnerung an seine Eltern, Geschwister, Herkunft oder Ereignisse. Er war einfach da, und vorher gab es nichts.
Stunden später begann er zu laufen. Es wurde bereits dunkel, als er ein Dorf erreichte. Er setzte sich auf die Türschwelle eines Hofes und blieb die ganze Nacht still an derselben Stelle sitzen.
So fand man Amiel. Niemand erfuhr jemals etwas über die Hintergründe.
Wie viele tausend Stunden Amiel auch fieberhaft, mit der Angel in der Hand, bei der grossen Flussbiegung darüber nachdachte, bis er fast die Besinnung verlor, nicht eine Erinnerung kam zurück.
Der Bauer, welcher Amiel auf der Türschwelle fand, gab dem Jungen zu essen und brachte ihn zur Polizei, wo ihm viele Fragen gestellt wurden. Amiel verstand sie, doch wusste er nicht, wie er zu antworten hatte und blieb stumm.
Während acht Monaten lebte Amiel in einem Kinderheim, ohne ein Wort zu sprechen. Er blieb die meiste Zeit still am Rande sitzen und beobachtete, was um ihn herum geschah und gewann ganz langsam Vertrauen in seine neue Umgebung.
An einem schönen Sommernachmittag kam ein Auto und seine neue Mutter und sein neuer Vater holten ihn zu sich. Er erinnerte sich, wie ihn seine Mutter strahlend und ungehemmt in ihre Arme schloss.
Er wurde adoptiert und erhielt alle erdenkliche Güte von zwei lebenslustigen, herzlichen Eltern. Seine Mutter erkannte schnell seine Furcht vor dem Alleinsein und sorgte dafür, dass er an Stabilität und Vertrauen gewann. Mit viel Feingefühl und Liebe begleite sie ihn zurück ins Leben. An manchen Abenden schaltete sie die Musik ein und tanzte mit Amiel wild durchs Haus, bis beiden vor Lachen die Luft wegblieb. Die Liebe und Fürsorge seiner Eltern heilten seine Schüchternheit und so begann Amiel zu sprechen und als die Schulzeit kam, bemerkte niemand mehr Amiels verlorene Jahre.
Er war stets etwas eigensinnig. Er war nicht unbeliebt, aber eben ein Träumer, den man gerne für den eigenen Vorteil gebrauchte. Nicht viele wussten von seinen ungewöhnlichen Herkunftsbedingungen, doch er selbst vergass sie keinen Augenblick.
Mit viel Kraft rang er darum, eine Identität zu entwickeln, die andere längst besassen.
Seine Mutter trug viel Sorge um ihn, doch war umso erfreuter zu sehen, wie ihr Sohn die Schwierigkeiten anpackte und begann, für seine Zukunft zu kämpfen.
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