Dann ging alles sehr schnell. In Amiels Erinnerung waren es nichts als Bewegungen von Menschen, Rufen, Sirenen, wie Momente in Zeitlupe. Er stand nur da bei seinem blutenden Bruder und war taub und kraftlos.
Er sass auch noch da, regungslos und verstummt, als er seine Mutter den Flur des Krankenhauses hinauf eilen sah, zerbrochen und von Schmerz überwältigt. Sie schüttelte Amiel ungehalten, drückte ihn gleichzeitig in tiefer Verzweiflung an sich und weinte.
Lyon lag über eine Woche im Koma. Die Computertomographie zeigte die Kopfverletzung, welche ein grosses Hämatom im Gehirn verursacht hatte. Über die Tage stellte man fest, dass sich die Blutung zurückbildete und die Ärzte schöpften Hoffnung.
Die Mutter verliess das Krankenhaus keinen einzigen Tag. Sie sass an seinem Bett und weinte, streichelte seine Hand oder las ihm Geschichten vor. Wenn Amiel sie beide mit seinem Vater besuchte, so fürchtete er sich am meisten vor dem Anblick seiner leidenden Mutter.
Natürlich hatten sie ihn gefragt wie dies alles passieren konnte. Die Wahrheit hätte er niemals sagen können, das war ihm klar. Er berichtete, wie er gestrauchelt sei und dadurch den Wagen los gelassen habe.
Sein Vater entbrannte in Wut und schrie ihn an. Er entschuldigte sich später, doch Amiel wollte keine Entschuldigung. Die Hilflosigkeit seines Vaters, der in diesen schweren Tagen bei ihm zu Hause blieb und sein Bestes tat, seinen Ärger über Amiels Missgeschick zu verbergen, prägten sich in die Seele ein. Er sah ihn abends mit geballten Fäusten vor dem Haus auf der Bank sitzen und erkannte seine Stunden schweren Haders mit dem Schicksal. Doch es war kein Schicksal, es war Bosheit, nackte Bosheit und niemand ausser Amiel selbst wusste es. Nicht einmal Lyon würde jemals wissen, dass es kein Unfall war.
Die Schuldgefühle zerfrassen ihn. Wenn er je zu dieser Familie gehört hatte, so hat er sich nun zweifelsohne selbst daraus ausgeschlossen. Die einzigen Menschen, die ihn liebten, hatte er beraubt und zerstört. Er sah in den Spiegel und seine Identitätslosigkeit schien auf Ewigkeiten beschlossen zu sein, denn ein Zurück würde es für ihn nicht mehr geben.
Es gab Tage, da hätte er ihnen so gerne die Wahrheit gesagt und hat darauf gewartet, dass sie ihn vor die Türe stellten und niemals mehr ein Wort mit ihm redeten.
Die Worte krochen einige Male wie von selbst über die Lippen, doch im letzten Moment hielt er sie erschrocken zurück. Wo sollte er denn hingehen? Es gab keine anderen Menschen, die er kannte und die ihn liebten. So entschied er sich für die eigene Feigheit und hasste sich dafür.
Lyon erwachte nach neun Tagen und sein Zustand wurde stabil. Zunächst kam endlose Erleichterung über die Eltern. Seine Mutter kam wieder nach Hause und schlief sich aus, ass und schöpfte Hoffnung. Sie setzte sich hin zu Amiel und begann mit ihm über alles zu sprechen. Er selbst hielt sich so knapp wie möglich. Er hatte es nicht verdient, dass sie sich ihm wieder zuwandte. Ach, was war seine Mutter für eine starke Frau. Sie hatte ihr einziges Kind fast verloren und entschied sich trotzdem, Amiel nichts nachzutragen oder ihm weiter Vorwürfe zu machen. Sie war offen und ehrlich zu ihm, erzählte ihm von ihrem Schmerz und ihrer Enttäuschung. Sie versicherte ihm, dass sie ihn liebte und ihn niemals dafür bestrafen würde. Sie entschuldigte sich für ihre Härte und den schroffen Umgang der letzten Woche.
Sie gab sich wirklich Mühe, ihm Nähe zu zeigen und ihm zu helfen, sich selber zu verzeihen. Doch dies konnte er nicht annehmen. Ihn ihm schlummerte nur der Gedanke, dass sie ihn niemals mehr lieben könnten, wenn sie beide die Wahrheit kannten.
Er zog sich wieder in seine Welten zurück und erstickte den Keim seiner Selbstabwertung in einigen wilden Jugendjahren.
Dies war die eine Seite. Die andere aber versuchte verzweifelt, das Leid in der Familie zu lindern. Wenn er zu Hause war, dann half er, wo er nur konnte und hielt sich selbst für nichts zu schade.
Der Unfall hinterliess seine Spuren. Lyon hatte ein Schädelhirntrauma erlitten und die Blutungen schädigten die Nervenbahnen. Ein halbes Jahr lang blieb Lyon in der Rehabilitation und seine Eltern waren voll damit beschäftigt, für ihn da zu sein und so viel Zeit wie möglich bei ihm zu verbringen.
Der Schicksalsschlag veränderte die Familie und alles wurde anders. Die Mutter hörte mit ihrer Arbeit auf und wohnte hauptsächlich bei Lyon. Der Vater arbeitete den ganzen Tag, erledigte mit Amiel den Haushalt und versuchte, so oft er konnte in die Rehabilitationsklinik zu fahren.
Für Amiel blieb wenig Zeit, doch hätte er dies auch nie erwartet. Mit Sorge betrachtete er, wie die Eltern sich abmühten, das Beste aus der Situation zu machen und für die Familienzukunft zu kämpfen. Doch für ihre Ehe war dies eine Zerreissprobe. Sie waren die meiste Zeit getrennt voneinander und wenn sie sich sahen, dann galt ihre volle Aufmerksamkeit Lyons Gesundheit. Die Genesungsschritte verliefen sehr langsam. Er lernte wieder, alleine zu essen, sich zu bewegen und zu sprechen. Er durchlief täglich mehrere, verschiedene Therapien und wurde nach besten Methoden der Medizin gefördert. Nach einigen Monaten konnte er wieder gehen, doch war es eine mühsame Fortbewegung und sein rechtes Bein hinkte von diesem Zeitpunkt an immer etwas nach. Auch beim Sprechen blieb ein Stottern zurück und er suchte oft lange nach den richtigen Worten.
Mit den Jahren wurde klar, dass Lyons grösste Behinderung auf der kognitiven Ebene lag. Er war stark lernbehindert und hatte Mühe, sich räumlich zu orientieren. Er benötigte für alle Verrichtungen des Alltages viel Zeit und seine Mutter übernahm seine vollzeitliche Pflege.
Als Lyon 8 Jahre alt war, kam er in eine Sonderschule. Zur Überraschung aller machte er auf einmal grosse Fortschritte und man entschied, ihn in eine Schule für lernschwache Kinder zu befördern.
Er schleppte sich durch die Schuljahre und hielt sich stets knapp über Wasser. Er kämpfte und lernte jeden Abend einige Stunden extra. Die Eltern unterstützten ihn und zogen professionelle Hilfe bei. Sie schöpften Hoffnung, dass Lyon doch noch einen Beruf erlernen könnte oder irgendwo als Hilfsarbeiter seinen späteren Lebensunterhalt verdienen könnte und wollten ihm unbedingt eine gute Schulbildung ermöglichen,
Amiel tat sein Möglichstes, seinen Bruder zu unterstützen. Von dem Augenblick, als Lyon aus der Therapie entlassen wurde, schwor sich Amiel, seinen Bruder vor allem Bösen der Welt zu beschützen und sein Möglichstes für sein Wohl zu tun. Er half ihm viele Abende beim Lernen, unterstützte ihn bei seiner Körperpflege, kaufte ihm Süssigkeiten, brachte ihn zur Schule und holte ihn am Abend ab. Seine Mutter war über diese Hilfe sehr erleichtert.
Dabei wurde Amiel Zeuge von Lyons wahrer Prüfung.
Lyon war der Schwächste von allen Schülern. Während die anderen mit leichten Einschränkungen kämpften, so hatte Lyon riesige Berge zu bewältigen.
Je öfter ihn Amiel von der Schule abholte, desto mehr beobachtete er die Peinigungen seines Bruders.
Er sah ihn mit seiner Mappe unter dem Arm die Strasse entlang hinken. Die anderen Jungen umringten ihn und verspotteten ihn lauthals. Sie lachten über Lyons nachgezogenes Bein und seine offensichtlichen Macken. Sie witzelten über sein Stottern und äfften ihn hämisch nach. Sein Bruder erduldete hässliche Beleidigungen, Spott und Hohn.
Amiel begann alles daran zu setzten, seinen Bruder vor ihnen zu beschützen. Er versuchte, immer genau zum Schulschluss bei Lyon zu sein, damit er nicht alleine loslaufen musste. Erwischte er jemanden, der Lyon verspottete, so war er erbarmungslos. Einige Male verteidigte er ihn mit blossen Fäusten und hinterliess einige blaue Augen. Er setzte sich mit den Lehrern in Kontakt, doch die schenkten ihm kaum Gehört. Am allermeisten aber versuchte er, dies vor seiner Mutter geheim zu halten. Sie hätte es nicht ertragen, das wusste er.
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