Amiel wusste nicht, ob er das glauben konnte, aber er konnte es hoffen. Er hoffte es mit ganzer Kraft! Vielleicht konnte er dann, wenn er wusste, wer er war, zurück gehen und die Dinge klären, für was er bislang zu feige war.
„Was möchtest du in deinem Leben erreichen?“, fragte ihn Dalin unvermittelt. „Wovon träumst du?“
Etwas überrascht sah ihn Amiel an und dachte nach: „Nun, wenn ich ehrlich bin, habe ich mir bislang nicht allzu viele Gedanken gemacht. Bestimmt wünsche ich mir das Übliche, eine tolle Frau zu heiraten, einige Kinder zu haben. Ich wünsche mir ein Zuhause und ein paar gute Freunde, viel mehr brauche ich nicht.“
„Oh, welch ruhmhafte Bescheidenheit“, erwiderte Dalin und konnte den neckischen Unterton nicht ganz verbergen. „Gibt es da nicht noch etwas mehr?“
„Was meinst du mit „mehr“?“, gab Amiel etwas verärgert zurück.
„Ich meine die Träume, mein Freund. Man spricht sie vielleicht nicht so schnell aus, aber sie sind mit Sicherheit da, sonst wäre das Leben fade und prüd.“
Amiel seufzte. „Alles, wofür ich die letzten Jahre arbeitete war, mir ein eigenes Leben aufzubauen und meiner früheren Schwermut endlich den Rücken zu kehren. Es ist mir ganz gut gelungen, und ich war zuversichtlich, die Vergangenheit hinter mir gelassen zu haben. Doch dann bist du aufgetaucht und hast mich aus dieser gemütlichen Position in ein unerwünschtes Abenteuer hineingeschleudert.“
„Unerwünscht?“, hakte Dalin nach.
„Ja, so ist es! Ich hatte geglaubt, es endlich hinter mir zu haben.
Du hast gesagt, du seist ein Traumdeuter und ich glaube zu wissen, dass du meine Geschichte besser kennst als mir lieb ist.“ Amiel hielt einen Moment inne und fuhr dann leise fort: „Es war der Traum, der nach langer Zeit zurückgekehrt ist. Ich habe es wieder gesehen, dieses weite Land. Ich habe das Gras berührt und den Duft eingeatmet. Ich kann es nicht beschreiben, aber immer, wenn es mir erlaubt ist, einen Blick in dieses Land zu werfen, wird alles andere unbedeutend. Der Traum war wie der erste Atemzug meines Lebens, er war von Anfang an da. Er ist alles, was ich von mir weiss, und er ist das Wunderbarste, was ich je erfahren habe. Ich kann nicht leugnen, dass ich mich beinahe jeden Tag frage, was dieser Traum mit mir zu tun hat und wie ich dieses Land finden kann. Kannst du nicht sagen, wie ich das Rätsel lösen kann? Kannst du mir sagen, wer ich wirklich bin?“
Er sah Dalin lange an und wartete, bis dieser erwiderte: „Ja, ich werde dir gerne helfen, das Rätsel zu lösen. Deshalb sitzen wir jetzt hier unter dem Sternenhimmel. Lieber Freund, sei dir im Klaren, dass dir eine einzigartige Gabe anvertraut ist. Es sind wenige, denen solch offene Augen geschenkt werden.“
„Ist Noer dieses Land?“, fragte Amiel dazwischen.
„Nein, nicht ganz. Noer ist ein guter Wegweiser. In Kürze wirst du mehr erfahren. Aber nicht heute Abend. Ein guter Freund muss zur richtigen Zeit reden und zur richtigen Zeit schweigen können. Geh jetzt schlafen, und überlasse alles der Ruhe der Nacht. Der morgige Tag wird einiges zu bieten haben!“
Wie immer war klar, dass an diesem Abend nicht mehr von Dalin zu erfahren war. Es war nicht leicht, diese Eigenart hinzunehmen, aber Amiel fügte sich und merkte, wie sehr er sich nach Schlaf sehnte.
Sie spülten das Geschirr und machten sich fertig für die Nacht. Dalin würde die erste Wache halten.
Amiel war das recht. Als er sich hinlegte, dauerte es nur wenige Sekunden und er schlief ein.
Dalin weckte ihn diese Nacht nicht.
Am nächsten Morgen erwachte Amiel früh. Ihm wurde schnell klar, dass Dalin ihn diese Nacht schlafen gelassen hatte und fragte sich, wie dieser es wohl geschafft hatte, die ganze Nacht wach zu bleiben.
Inzwischen mussten sie ihrem Ziel näher gekommen sein, sofern dies wirklich möglich war. Bisher lief alles nach Plan und die Spannung darüber, was die nächsten Tage geschehen würde, stieg an.
Ein Hauch von Sorge überkam ihn. Er war nicht geübt in der Hochseefahrt und je südlicher sie kamen, desto wilder wurde das Meer. Jeden Tag konnte ein neuer Sturm sie treffen.
Dalin war nicht in der Kabine. Sein Bett war ordentlich hergerichtet, und Amiel hörte nicht das gewohnte Summen vom Oberdeck.
Er zog seine Kleider an und kletterte nach oben. Er sah sich um, doch sah er Dalin nicht. Er stieg auf das hintere Deck, doch niemand war da. Amiel begann, seinen Namen zu rufen und stieg wieder in den Bug des Schiffes. Er sah im Vorratsraum nach, in jeder kleinsten Ecke des Schiffes und rief seinen Namen. Dalin war verschwunden.
In Panik rannte Amiel wieder an Deck und suchte das Wasser ab. War Dalin ertrunken? Über Bord gefallen? Wie konnte das sein?
Um ihn herum war nichts als das weite Meer zu sehen. Kein Land, keine Schiffe, kein Zeichen von Dalin. Er musste sich setzen. Er hatte keine Ahnung, welches böse Spiel da mit ihm gespielt wurde.
Schliesslich taumelte er benommen in die Kabine zurück und setzte sich auf das Bett.
Sein Blick fiel auf die fein säuberlich zusammengefaltete Decke, dann auf das Kissen auf Dalins Nachtlager und zu seinem Erstaunen sah er da einen grauen Umschlag liegen.
Augenblicklich griff er nach ihm und riss ihn auf.
Es war eindeutig Dalins Handschrift:
„ Lieber Freund, ich weiss, das wirst du mir ewig nachtragen, aber ich musste etwas früher aufbrechen als geplant. Nicht, dass ich weit weg bin, aber diesen letzten Abschnitt wirst du ganz gut ohne mich schaffen. Wir treffen uns in einigen Tagen wieder. Du wirst alle Hilfe und Hinweise finden, die du benötigst. Habe persönlich dafür gesorgt.
Bis bald. Dalin“
Amiel starrte auf den Brief. Minuten verstrichen und er blieb stumm sitzen, ohne sich zu regen oder viel zu denken. Dann legte er den Brief zurück und ging an Deck.
Er überprüfte erneut die Geschwindigkeit und die Steuerung, dann setzte er sich schliesslich an den Tisch. Für einige Stunden sass er nur da, sah aufs Wasser hinaus, studierte die Karte und überlegte fieberhaft, wie er seinem Schicksal entkommen konnte. Er sah sich schon jämmerlich auf dieser Nussschale verdursten. Welche Route konnte er nehmen bis zum nächsten Festland? Welche Chance gab es, umzukehren? Er überprüfte das Wasser und die Vorräte. Die Lage war klar, es würde nicht länger als vier Tage reichen. Das Wasser war fast aufgebraucht.
Viele Stunden war er hin und her gerissen. Dies war zu viel für ihn. Er war allein und steuerte mit grosser Geschwindigkeit auf das weite Nichts zu. Irgendwann würde es zu spät sein, um umzukehren. Konnte er es wagen, noch ein, zwei Tage weiter südlich zu fahren? Und was, wenn keine Insel kommen würde? Welche Möglichkeiten würden ihm bleiben?
Er wusste es nicht. Auch nicht, als die Sonne hinter dem Horizont unterging, auch nicht, als die ersten Sterne am Himmel aufleuchteten. Er fühlte sich als Teil eines ungewöhnlichen Alptraumes und war schlicht unfähig, darauf zu reagieren.
Die Nacht über lag er wach, fiel jeweils nur minutenlang in einen unruhigen Schlaf und schreckte wieder auf. Wutentbrannt über diesen komischen, überirdischen Typ, der einfach verschwunden war, als es brenzlig wurde. Wie konnte er nur so wahnsinnig sein, sich auf solch eine Geschichte einzulassen? Dann aber dachte er über jedes kleinste Detail der letzten Tage nach und erschauderte über die ganze Unwirklichkeit der Ereignisse.
Das konnte alles gar nicht wahr sein!
Er tat auch am Morgen nichts. Rührte kein Essen an, kein Wasser, hielt nur die Geschwindigkeit bei und wartete. Stunde um Stunde starrte er auf den weiten, nichtssagenden Horizont und wollte mit jeder Minute mehr verzagen.
Seine Gedanken rätselten, suchten einen Ausweg aus der Misere. Er hatte noch den Funk und würde Hilfe rufen können. Dies war der einzige Grund, weshalb er noch immer den Kurs nach Süden hielt.
Читать дальше