Dieser Tag war voll von schrecklicher Einsamkeit. Eine solch schmerzliche Trübsal hatte er lange Zeit nicht mehr durchlebt und sie zermürbte ihn.
Die Fröhlichkeit und Schönheit der letzten Tage war verschwunden.
Viele Male wollte er sich erheben, endlich zu diesem Steuerruder gehen und diesen bitteren Spass beenden. Viele Male wollte er das Funkgerät einschalten und Hilfe anfordern.
Aber er sass immer noch da, an derselben Stelle mit dem Blick auf den Horizont gerichtet.
Er erhofftet sich nichts mehr von dieser Reise, vielmehr war es ein Gefühl lähmender Sinnlosigkeit, die ihn davon abhielt, aufzustehen und die Sache in die Hand zu nehmen.
Er konnte sich keinen Reim auf diese Geschichte machen. Er hatte nicht die geringste Spur von einer Idee, wozu das alles gut sein sollte.
In dieser Dämmerung seines Verstandes liess er sich dahintreiben, in diesem Nichts seiner Selbst vergass er alles um sich herum und in der Belustigung über den eigenen Wahnsinn hätte er beinahe verpasst, dass weit in der Ferne, am hintersten und trügerischsten Ende des Horizontes ein erstes Strichlein Land auftauchte.
Er glaubte es nicht. Er weigerte sich, es zu glauben.
Als bestätigte es den Zustand des verzagten Selbstkritikers, regte sich auch nichts in ihm, als der dünne Strich sich zu einer klaren Struktur verhärtete, die sich deutlich aus der blauen Unendlichkeit heraushob.
Und noch Minuten später war sein Innerstes taub, bevor es langsam in sein Bewusstsein drang und einige Signale durch das Gewirr seiner Synapsen sendete.
Amiel sprang auf.
Land! Da war ohne Zweifel Land zu sehen! Hastig sprang er in die Kabine und wühlte in seinen Taschen, bis er schliesslich das Fernglas fand.
So stand er an Deck, nun mit rasendem Puls und ängstlicher Erleichterung, und beobachtete, wie langsam in weiter Ferne eine Insel sichtbar wurde.
Als es keinen Zweifel mehr gab, welches Abenteuer sich vor seinen Augen auftat, legte er das Fernglas beiseite und begann, das Schiff für die Ankunft vorzubereiten. Eine schwindelhafte Aufregung umfing sein Herz. Es zersprang schier in seiner Brust und hämmerte gegen alle Werte des Verstandes. Hier war sie, dieses wirren Rätsels Antwort, die sich in einer solch verrückten, einzigartigen Weise vor ihm auftat. Er wappnete sich für den Sprung ins Unbekannte.
„ Ja, aber glauben Sie denn wirklich, Herr Professor“, fragte Peter, „andere Welten sind überall zu finden, und einfach nur so um die Ecke herum?“„Nichts ist wahrscheinlicher“, antwortete der Professor. Er nahm seine Brille von der Nase und putzte sie sorgfältig. Dabei murmelte er: „Ich frage mich wirklich, was sie ihnen eigentlich auf den Schulen beibringen.“
C.S. Lewis in „ Der König von Narnia“ (1950)
Das Schiff näherte sich dem fremden, nie zuvor erkundeten Land. Wohl hatte manch einer der grossen Entdecker diese letzten Minuten wie Amiel verbrachte - eng an den Frontmasten gepresst und mit stockendem Atem - und auf jene sich aufschliessenden Landstriche gestarrt.Mit den sich schärfenden Strukturen jener Insel und den ganzen Erlebnissen der letzten Tage, löste sich Amiels Welt aus aller Erklärbarkeit und Logik. Was hier geschah, überstieg den menschlichen Anspruch nach Vernunft.
Amiel erkannte eine leicht hügelige Landschaft, die kleine Sandbuchten und steinige Anhöhen formte. Liebliches, junges Grün überzog die Hügel, hohes Gras, wo weder Büsche noch Bäume zu sehen waren. Am Strand konnte er vier Holzboote erkennen, die dort befestigt waren.Häuser konnte er jedoch keine ausmachen.Dann sah Amiel drei Personen, die im Schatten eines Felsens sassen und ihn beobachteten. Als er näher kam, erhoben sie sich. Amiel war mulmig zumute. Die Männer waren leicht bekleidet, trugen ausschliesslich knielange Hosen und lange Überhänge.Sie wirkten sehr kräftig, und Amiel war sich seiner Lage bewusst. Seine Augen suchten nach Dalin, der jedoch nirgends zu sehen war. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als direkt auf sie zu zu steuern. Die Männer standen nun mit strengem, verunsicherndem Blick am Strand und warteten, bis er näher kam. Dann riefen sie ihm etwas zu, das Amiel nicht verstand.Doch dann, als wäre ihm eine neue Welt aufgeschlossen worden, erfasste er die unbekannten Silben.Er konnte jedes Wort verstehen, obwohl er die Sprache nie zuvor gehört hatte.
„Anhalten!“, hörte er. Er sah, wie einer der Männer ein Messer zückte. So gut es ging, brachte er das Schiff zum Stehen. Die Männer kamen ins Wasser. Amiel hob abwehrend seine Hände. Erstaunt hörte er sich selbst sprechen:„Ich bin allein und komme in Frieden. Ich bin ein Seefahrer und suche das Land Noer.“Die Männer winkten ihn zögernd heran und Amiel übergab ihnen den Strang seines Seiles. Gemeinsam zogen sie das Schiff an Land. „Wie ist dein Name?“, fragte ihn einer der Männer. Er hatte schwarzes, mittellanges Haar und einen leicht dunklen Teint. „Ich bin Amiel“, antwortete er bereitwillig und staunte noch immer, dass er eine so völlig unbekannte Sprache sprach. „Ich komme aus dem Norden, aus Europa.“Die Männer sahen sich fragend an. Sie halfen Amiel, das Boot fest zu binden und bestanden darauf, sich zu vergewissern, dass er alleine war. Mit grosser Bewunderung betrachteten sie sein Schiff. Aufgeregt begutachteten sie die Segel und den eingerichteten Innenraum. Die kleine Küche schien sie völlig zu faszinieren. Auch der Schiffsmotor wurde eingehend bestaunt.Sie stellten ihm seltsame Fragen, und Amiel begann zu verstehen, dass diese Dinge ihnen unbekannt und neu waren. Schliesslich versprach er ihnen, später einmal alles genau zu erklären und schenkte ihnen einige seiner Habseligkeiten, um sie abzulenken. Einer der Männer war bereits weggelaufen und kam mit fünf weiteren wieder angerannt, die allesamt erneut das Schiff unter die Lupe nahmen und heftig miteinander diskutierten. Erst nach einer ganzen Weile griff ihn ein älterer Herr lachend am Unterarm und führte ihn an den Strand.
„Nun komm aber erst mal an Land, mein Junge. Wir haben hier sehr selten Gäste von fremden Inseln. Du musst eine sehr weite Reise hinter dir haben. Komm und iss mit uns.“
Sie setzten sich zu den Fischerbooten, und mit der Zeit stiessen auch die anderen zu ihnen. Sie assen Brot mit getrocknetem Fisch und frischen Tomaten.
„In der Tat“, sagte der Mann, „du musst von sehr weit her kommen. Wir haben noch nie ein solches Schiff gesehen. Es gibt einige Inseln im Norden, mit deren Bewohnern wir Handel treiben. Aber vom sehr hohen Norden wissen wir nichts, ausser einigen vagen Geschichten und Mythen. Hie und da kommt ein Wanderer in unserem Dorf vorbei. Er hat uns vor ein paar Tagen auch mitgeteilt, dass ein Fremder vorbeikommen wird und wir dich höflich empfangen sollen. Ein guter Kerl, wenn auch etwas eigenartig.“
„Du meinst Dalin? Ist er hier?“, fragte Amiel.
„Nein. Gestern Nacht ist er in die Stadt aufgebrochen. Er meinte, es gäbe Dringendes zu erledigen. Einen guten Freund hast du dir da geangelt. Lässt dich einfach hier alleine zurück.“ Der Mann lächelte aufmunternd. „Aber mach dir keine Sorgen! Du bist hier in guter Gesellschaft. Wenn du willst, bist du willkommen, diese Nacht unser Gast zu sein. Ich wohne oben im Dorf mit meiner Familie. Morgen früh bricht mein Nachbar auf und fährt in die Stadt. Er kann dich bestimmt mitnehmen.“
„Wo ist denn die Stadt?“, fragte Amiel.
„Sie liegt etwas mehr als eine halbe Tagesreise südlich von hier“, antwortete einer der Männer. „Die Stadt Luun, Noers Hauptstadt im Lande des grossen Waldes. Eine prächtige Stadt, das kann ich dir sagen. Wir Anwohner des Meeres kommen leider nur selten in den Süden. Aber das haut auch sein Gutes. Es gibt zu viele Unruhen in den grossen Siedlungen. Hier im Norden sind wir zu abgelegen für solche Dinge.
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