Ein pechschwarzer, ebenmäßig geformter und glatter Kieselstein … matt … reflektierte keinerlei Licht und nicht größer, als die obere Kuppe eines Daumens. Hypnotisiert lag ihr Blick darauf. Doch … ein Stein … nicht als ein Stein.
Ein fürchterliches Geräusch riss sie aus der Lethargie. Arget stimmte einen seiner berüchtigten atonalen Gesänge an. Seine ehemaligen Nachbarn und Freunde betrachteten ihn mehr ärgerlich, als verblüfft – auch mit ängstlicher Neugierde. Sie waren vieles von ihm gewohnt. Er galt als sonderbarer Kauz, mit verrückten Ideen und Gedanken. Aber? … einen Zaubergesang stimmte man nicht ohne Grund an.
Argets Hände hoben sich gegen den Himmel. So elegant, wie seine Statur die Bewegungen zuließ, wiegte der Oberkörper. Die gleichmäßige Bewegung hypnotisierte die Stammesbrüder, die dem inneren Zwang gehorchend, die Bewegungen nachahmten und schwerfällig begannen, den Quellbereich zu umtanzen.
Arget umfasste mit beschwörenden überlieferten Bewegungen den Stein und hob ihn über seinen Kopf.
Die Tanzenden stockten. Was machte er denn jetzt schon wieder? Ein Werkzeug oder eine gar eine Waffe, war daraus nicht zu bearbeiten. Zu klein und das falsche Material.
Ein Sonnenstrahl, der mittlerweile tief stehenden Sonne, durchbrach oberhalb der Mulde die Baumwipfel und traf das Mineral. Aus der Schwärze des Steines schossen haarfeine reflektierende Sonnenstrahlen und trafen die tanzenden Menschen. Ein plötzlicher Windstoß ließ Äste und Blätter der Birken gespenstig gegeneinanderstoßen und rauschen.
Die Gruppe fiel gemeinschaftlich zu Boden und verdeckte die Augen. Was sie nicht sahen … konnte sie auch nicht sehen.
Argets Entsetzen sahen sie nicht. Aus seiner Brust entwich ein tiefer knurrender Schreckenslaut.
Aufgeschreckt durch das Geräusch schoben die Stammesgenossen die Finger auseinander und sahen, was nicht sein konnte: Argets Körper wurde von einer Aura hellen Lichtes umfasst.
Arget bewegte die Hände in bizarren Mustern durch die Luft und unterband die aufkeimende Panik der Gruppe. Fasziniert betrachteten sie ihn. Der Oberkörper wiegte leicht und die Bewegungen seiner langsam kreisenden Arme, beruhigten die Männer.
Erneut hob Arget zu einem beschwörenden Gesang an. So sehr die Melodie den Ohren schmerzte, die Macht der Töne dämpfte die Angst. Zwangsläufig wiegte die Horde hin und her.
Abrupt endete der Gesang. Berechnend beobachtete er seinen Stamm. Waren sie ihm mittlerweile wohlgesonnen? Konnte er es wagen, den sicheren heiligen Platz zu verlassen?
Das Risiko war zu groß. Der Gedanke kam aus dem Nichts. Ein Versuch war es wert. Er hob seinen Kiesel in die Luft und machte das Zeichen für Zauber.
Nein … das brachte nichts. Aggressiv stampften seine Kontrahenten mit den Füßen auf den Boden und machten Anstalten, die Bannlinie zu überschreiten. Für solch einen kleinen Stein einen Zaubergesang zu verschwenden, war Lästerung der großen Mutter. Dazu noch kurz hintereinander der Zweite – und wiederum für den wertlosen Stein, aus dem er kein Werkzeug fertigen konnte.
Zaubergesänge waren wichtig und regelten das tägliche Leben. Für alle Situationen des Lebens gab es einen Zauber. Aber er durfte nicht nutzlos verschwendet werden, sonst wurde er wirkungslos. Häufig hingen davon Leben und Tod ab. Langsam und unaufhaltsam zog jedoch die Unsicherheit in ihr Denken. Das Licht? Wirkte etwa der Trank des Magiers? Hatte der Tod des Zauberers eine besondere Bedeutung?
Die Angst hielt sie davon ab, auf den heiligen Platz zu stürzen. Unschlüssig standen sie herum.
Argets Gesicht strahlte entrückt, als wenn ihm größtes Glück zuteilwurde. An seinem Hals, dort wo ihn der magische Knochen des Zauberers getroffen hatte, entstand ein Mal in der Form des Kiesels. Mit seinen Empfindungen wurde es sichtbar. Das Zeichen nahm einen zartrosa Farbton an, pulsierte jedoch zu einem dunklen Rot, als wolle es jeden warnen, sich mit dem Gezeichneten abzugeben.
Die Truppe zog sich ein wenig mehr zurück. Er wurde ihnen unheimlich.
Während dessen wurde Arget von den unterschiedlichsten Empfindungen überschwemmt. Glück, Wohlbehagen, Tatendrang und vieles mehr, das er nicht in Gedanken fassen konnte … denen er jedoch genussvoll seinen Körper und Geist überließ. Langsam schloss er seine Hand zur Faust. Diesen Stein wollte er nicht mehr hergeben.
*
Viele Jahrtausende, während der letzten großen Eiszeit, bewegte sich kein Mensch durch die Mulde. Weitere 10 000 Jahre beobachte ich das Schmelzen der Eismassen im ewigen Zyklus. Mehrere Tausend Jahre später wühlen sich die abfließenden Wassermassen durch die Urstromtäler der Erdoberfläche und verändern sie.
Auch die kleine Mulde - über die ich wache - veränderte sich im Laufe der Jahrtausende. Sie hat aber letztendlich, fast die gleiche Form behalten, die sie zu Zeiten Argets hatte.
Während der gesamten Dauer habe ich den Weg des Steines, auf der Flucht vor dem ewigen Eis, im Auge behalten.
Tief im Süden Europas beobachte ich seinen Puls als schwaches Licht. Das Gefühl von Schmerz durchzieht mich, wenn mir die Trennung, von meinem Weggefährten, bewusst wird. Es dauert Ewigkeiten, bis die Lebenslinien eines der Besitzer wieder im gleichen Rhythmus mit dem Stein schlagen. Aber der Kontakt ist aufgrund der großen Entfernung unmöglich.
Immer wieder fordere ich, mit aller Konzentration, die mir zur Verfügung steht, die Träger auf, in die Gegend der Mulde, zurückzukehren.
Aber, der Stein bewegt sich, vielleicht jede fünfte oder sechste Menschengeneration, unbedeutend nach Norden.
Einige Male - im Verlaufe der Jahrtausende – kommt Hoffnung in mir auf.
Denn, immer wieder ziehen, von Südosten oder Südwesten kommend, Menschen vorüber. Sie machen jedoch nie Rast - halten nicht einmal an.
Ich beobachte sie und stelle fest, dass sie sich, mit fortschreitender Zeit, verändern. Es gibt langschädelige und rundköpfige, groß und klein gewachsene Menschengruppen. Der Knochenwulst über den Augen ist fast vollständig verschwunden und ein Kinn prägt sich heraus.
Etwas jedoch hat sich nicht verändert. Die Menschen sind Jäger und Fleischesser geblieben.
Ich sehe es an den Jagdwaffen und Werkzeugen der vorüberziehenden Horden. Die Faustbeile mit der einseitigen Schneide sind, bis auf eine ausgewogenere Balance, ähnlich denen, die auch Arget benutzte. Die steinernen Spitzen und die anderen Werkzeuge sind feiner gearbeitet, haben sich jedoch wenig verändert.
Mit der Evolution wandert der Kiesel langsam aber stetig wieder nach Norden.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich es schon einmal erwähnt habe … meine Gedanken sind überall zur selben Zeit, am selben Ort … Der Zeitpunkt, den die Menschen, als früher bezeichnen, ist nicht mehr genau zu definieren. Einst lebten sie zeitlos wie ich. In der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie begannen zu denken. Dazu benutzen sie einen kleinen Teil des Körpers, der heute Gehirn genannt wird. Zunächst wussten sie nicht, womit sie dachten. Die Menschen begannen sich von den Tieren zu unterscheiden und suchten einen Halt, um die Bürde des Denkens zu meistern. Zuerst war die Sonne … sie gab Licht und den Antrieb zum Leben. Dann die Erde … die Mutter … die das Leben wachsen ließ. Die Luft … das Wasser … und letztendlich das Feuer. Sie begriffen, wie die Elemente im Einklang wirkten, und schufen Bauwerke, die sich daran orientierten. Weil sie die physikalischen Gesetze nicht verstanden, wurde der Glaube geboren. Unbeeindruckt davon blieben die Träger des Kiesels. Nicht, dass sie nicht glaubten. Sie wussten immer … da war noch etwas. Dieses Wissen gab Sicherheit.
Doch, ich greife vor. Für die Menschheit dieses Planeten beginnt das Leben jetzt.
*
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