Die einzige globale geografische Verbindung ist ein kleines meist trockenes Fleet, das zu Regenzeiten bis in die Maas, in den benachbarten Niederlanden, fließt und das Dorf mit den Weltmeeren verbindet.
Die erste bekannte Nennung des Dorfes datiert aus dem Jahre 1325. Doch es ist sehr viel älter.
Über das Dorf wache ich. Die Menschen haben keine Kenntnis von meiner Existenz. Jedoch ranken sich Sagen und Märchen um das verträumte Dorf, seit Menschen Geschichten erzählen können. Ich bin der Schutzpatron, Lauscher, Voyeur oder Chronist, der seit Jahrmillionen an diesen Fleck Erde weilt.
Ich bin Hein.
Ich habe keinen Körper, lediglich ein Bewusstsein und eine Aufgabe. Meine Passion ist die Beobachtung und seit Neuestem auch die Kommentierung. Ich existiere auf passiven und aktiven Ebenen, die es mir ermöglichen, die Vergangenheit zu beobachten und zu deuten sowie in der Gegenwart, Versuche zur aktiven Teilnahme am Geschehen, zu unternehmen.
In meiner passiven Existenz warte ich auf die Menschen.
Seitdem sie vor Jahrtausenden endlich erschienen, trachte ich danach, ihre Geschicke zu bestimmen. Aber, dieses Recht wurde und wird mir verwehrt. Meine Frohnatur lässt mich immer wieder neue Versuche unternehmen. Meist mit keinem oder mäßigem Erfolg. Ich denke, ich bin gutmütig und habe weder etwas mit Gott oder dem Teufel zu tun.
Ich bin einfach da.
Wahrscheinlich hat jedes Dorf und jede Stadt ein solches Element. Dennoch fühle ich mich einzigartig.
Ich bin allgegenwärtig und bewege mich sowohl durch die Vergangenheit wie durch Gegenwart und Zukunft.
Als mir bewusst wurde, dass ich existiere, beschäftigte ich mich lange Zeit mit mir selbst. Es ärgert mich, an diesen einen Ort, gefesselt zu sein. Jeder Versuch die Fesseln zu sprengen, endet erfolglos. Aber, mit dem Ablauf der Jahrtausende bildete sich eine besondere Gabe, die es mir ermöglicht, weit über die Grenzen meines festen Standortes zu schauen, zu beobachten und zu lernen.
Und so schaute ich, was sich in der Welt tat.
Unendlich langsam – aber unaufhaltsam – veränderte die Oberfläche der Erde ihr Angesicht. Ein steter Zyklus schob riesige Eismassen über den Kontinent, um dann Millimeterweise den Prozess umzukehren. Wenn ich zurückblicke, dauerte eine Eiszeit mit knappen 70 000 Jahren länger; als eine Warmzeit, die mit circa 35 000 Jahren kürzer ausfiel.
Das keimende Leben auf der Erde musste sich also beeilen, um das Überleben zu sichern. Damals zog eine Vielzahl von Lebensformen durch meinen Einflussbereich – und sich auch wieder zurück. Aber, ebenso unaufhaltsam, wie die Oberflächenbildung, entwickelte sich die Artenvielfalt des Planeten.
Und endlich war es so weit.
Die ersten Menschen ziehen durch meine Mulde. Vom ersten Augenblick an ist mir bewusst, diese seltsamen Tiere sind etwas Besonderes. Meine Versuche, auf mich aufmerksam zu machen, bekommen sie nicht mit.
*
„ Mein Wirtskörper hat Schwierigkeiten. Ich muss ihn verlassen. Wenn ich noch länger warte, schade ich ihm und mir.“
„ Ist die Zeit denn schon gekommen?“
Ich bin voll ausgebildet und kann bei einer Entkopplung aus eigener Kraft atmen.“
„ Warum wartest du noch?“
„ Ich kann nicht mit meinem Wirtskörper kommunizieren. Ein Katalysator fehlt.“
„ Der Katalysator gehört deinem Erzeuger.“
„ Ich muss mich beeilen. Ich schade meinem Wirtskörper. Meine Erinnerungen sagen, dass Leben geschützt werden muss. Die chemischen Zusammensetzungen der Körperflüssigkeiten verändern sich beängstigend schnell und schaden auch mir. Mein Wirtskörper ist sehr erregt. Die elektrischen Impulse jagen nur so durch seinen Körper. Er muss sich beeilen, damit er sich nicht selbst im eigenen Körper und der Gedankenströmung verirrt. Irgendetwas beunruhigt ihn so sehr, dass die Schweißdrüsen angeregt und die Muskulatur in unkontrollierbare Zuckungen versetzt werden.“
„ Ungeborenes Leben. Ich tue alles in meiner Macht stehende.“
„ Du musst mehr tun.“
„ Ich kann nicht mehr tun.“
„ Du musst …“
*
Arget schlief an der Quelle. Den Tod des Magiers, seinen Traum, in Verbindung mit den Geschehnissen um seine Person und die neuen sonderbaren Gedanken waren im wachen Zustand, nicht zu verarbeiten. Zu den neuen Eindrücken kam der Fluch des Zauberers, der sehr ernst zu nehmen war. Häufiger starben verfluchte Stammesbrüder. Sie fielen, wie vom Blitz gefällt, tot um oder wurden von wilden Tieren angegriffen und zerfleischt.
Was wollte der alte Mann mit seinem Fluch? Ganz langsam erwachte Arget. Erschrocken fuhr er hoch. Doch … keine Gefahr. Die Stammesbrüder lagen in sicherem Abstand zu ihm; schnarchten und furzten.
Seine Gedanken überschlugen sich. Wie ein Wurm, fraßen sich Empfindungen und Begriffe in sein Gehirn, die er nicht verstand. Er dachte Sachen, die er nicht kannte.
Ängstlich ließ er den Blick wandern und tatsächlich … da lag der Stein im Sand. Seine Hand glitt zögerlich darauf zu und fasste ihn an. Schwache angenehme Empfindung strömte in ihn. Sein Körper kribbelte wohlig. Die verkrampften Muskeln wurden locker und genussvoll dehnend nahm er die neuen Gefühle auf.
Der Stein war nicht besonders groß. Ungefähr, wie eine Daumenkuppe. Wie sollte er ihn bearbeiten?
Die Überlegung rückte in den Hintergrund, weil neue Eindrücke in den Vordergrund traten. Veränderungen in der Zeit und durch die Zeit. Die Mulde und die Lichtung werden sich im Verlaufe der Zeit verändern. Er wusste nicht weshalb, ahnte jedoch, wie.
Ein weiterer Gedankensprung. Wie war es vor seiner Flucht?
Sein Bewusstsein spielte ihm einen Streich. Wieso saß er hier?
Tief in seinem Inneren hatte er Kenntnis davon, dass er sich vorwärts bewegen, weiter und weiter laufen sowie der Nahrung folgen musste. Der feste Platz seines Stammes am Fluss war nur vorübergehend. Wenn die lange kalte Zeit kam, mussten sie wandern.
Arget hatte Erinnerung daran, dass der Wandertrieb mit den schwierigen Verhältnissen seines Lebensraumes zusammenhing. Alles, was sein Stamm zum Leben brauchte, musste er der Natur gewaltsam entreißen.
Er konnte nicht begreifen, dass diese Gedanken in seinem Kopf waren. Bisher war es immer so gewesen, dass ein Bild in seinem Denken einen Drang auslöste. So musste er jagen oder Werkzeuge suchen oder sich auf Wanderschaft begeben.
Aber jetzt war es anders. Die vielen Bilder in seinem Kopf. Keines machte Sinn oder löste Zwang beziehungsweise eine Handlung aus. Sie waren da. Aber er konnte sie keinem mitteilen, da ihm und den anderen die Worte dafür fehlten.
Die Jahreszeiten wurden durch den Lauf der Sonne bestimmt, und wenn es kalt wurde, musste er sich in seine Höhle zurückziehen. Er wartete oft sehr lange, bis es wieder warm wurde.
Die Gedanken, die er nicht denken wollte, strengten an.
Unruhe weckte Arget. Der Stamm wollte, dass er den heiligen Ort verließ. Im Grunde musste er die Jagd fortsetzen. Für sein Vergehen verdiente er den Tod. Das war eben so.
Aber er wollte nicht. In ihm sträubte sich alles, die Flucht fortzusetzen. Er blieb einfach auf dem Boden sitzen und machte dem Stamm klar, dass er noch keine Lust hatte. Die Männer knurrten und drohten zur Quelle.
Letztendlich lagen sie murrend im Sand und beobachteten ihn. Dreizehn kalte Augenpaare registrierten jede seiner Bewegungen. Argets wundersame Rettung und die Heilung seiner Verletzungen konnte auch ein Signal der Großen Mutter sein. Sie dachten daran, wie er häufig kichernd und torkelnd über den Lagerplatz lief und mit jedem, seinen Schabernack trieb. Auch die vielen Begriffe, die er ihnen dann gab. Seine Zunge schien in diesem Zustand besonders beweglich und formte Laute, die schwierig nachzuahmen waren. Wenige Stunden nach einem solchen Anfall war er wieder normal … sofern man von normal denken konnte, wenn jemand mit schmerzverzerrtem Gesicht herumlief. Kopfschmerzen … die Große Mutter mutete ihm zu viel zu. Die Gedanken des Stammes waren in diesem Moment kollektiv. Deshalb sahen sie zum gleichen Zeitpunkt den Stein, der vor Arget im Sand lag.
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