Der mächtige Zauberer, ein alter weiser Mann, des Stammes gebärdete sich fuchsteufelswild. Bevor Arget sich ihm widersetzen konnte, machte der Magier die rituellen Handzeichen der Bestrafung durch die Große Mutter. Er verfluchte ihn und seine Nachkommen bis an das Ende der Zeit. Sie sollten alle gezeichnet sein, damit jeder sie erkenne. Der Zauberer warf seinen magischen Knochen gegen ihn, den er ständig bei sich trug. In panischer Angst, versuchte Arget zu entkommen und rempelte den alten Mann zur Seite, sodass er nach hinten in das Herdfeuer fiel. Die alten Lumpen und Felle des Zauberers loderten sogleich hell auf und verbrannten den alten Mann, der sich nicht mehr erheben konnte. Bevor er verging, bannten seine Augen Arget. In ihnen las er den Fluch, der ihn und die seinen bis ans Ende aller Tage verfolgen würde.
Der herbeigeeilte Stamm schrie auf. Der Zauberer brannte. Was sollten sie tun? Sie waren schutzlos. Wer hatte ihnen den Schutz genommen?
Arget.
Ungläubig richteten sich aller Augen auf ihn. Er sah, wie die Muskeln spielten und tatsächlich … wie ein Mann, stürzten sie auf ihn zu. Trotz heftiger Gegenwehr trafen ihn Schläge und Tritte. Er bekam keine Gelegenheit zu einer Erklärung und kämpfte bis zum Letzten. Aber, bevor er sich totschlagen ließ, suchte er sein Heil in der Flucht.
*
Der Reflex schoss in den Körper und saugte Feuchtigkeit aus der Luft, die durch die Poren der trockenen Haut, zu den Transportleitungen sickerte. Die zähe verklumpte Masse, in dem System, nahm das Nass auf und verflüssigte sich. Das Herz begann langsam zu schlagen, stetig, zwei Stöße pro Minute. Die träge, sich akkumulierende Substanz, geriet in Bewegung und schob durch die Adern, bis sie zu Blut wurde. Die Umwandlung dauerte mehrere Monate. Den Kampf, um das Leben, nahm der leblose Körper nicht wahr. Erst nach und nach erwachten die ruhenden Zellen.
Unendlich langsam tauchte das Bewusstsein aus der tiefen trägen Dunkelheit und schickte ein Signal durch das System. Die Augenlider schoben nach oben und reflektierten tiefe Dunkelheit. Aus der undurchdringlichen Schwärze wurden milchige und, zu guter Letzt, klare, wahrnehmbare Eindrücke.
Was war geschehen? Wollte die Große Mutter ihn noch nicht gehen lassen? Sein Leben war doch gelebt? Und viel länger, als jeder andere, den er kannte. Die Pupillen wanderten und nahmen die gewohnte Umgebung wahr.
Gewohnte Umgebung? - Unmöglich! Er sah die bekannten Wände aus Lehm, die ihn so oft in den Schlaf begleitet hatten. Schwerfällig drehte er den Kopf und tatsächlich, er lag auf dem Platz, von dem aus er die Reise zur Großen Mutter antreten wollte … doch er lebte. Wollte die Große Mutter ihn noch nicht gehen lassen?
Seine Gedanken arbeiteten und sandten Signale an den Körper. Er schob die Glieder über die Lagerstatt. Was war los? Weshalb fühlte er sich so schwach? All seine Sinne wurden notwendig, um während des Aufstehens, die Balance zu halten. Schließlich stand er schwankend. Unwiderstehlich zog das Gefühl in ihm auf, das ihn nach draußen zog.
Arget schlurfte hölzern aus der Höhle, die seine Schlafstatt barg, in das große Gewölbe. In einiger Entfernung brannte ein Feuer. Mühsam stakte er darauf zu und ließ sich zwischen denen, die dort schon saßen, nieder.
Mit ihm gruppierten sich mindestens dreißig Personen, wie sie unterschiedlicher und dennoch gleicher nicht sein konnten, um die Herdstelle und schauten sich, ungläubig staunend an. Sie schienen aus unterschiedlichen abgelegenen Gegenden zu kommen, denn die Kleidung war verschieden und nur mit dem vergleichbar, was er bisher in seinen Träumen gesehen hatte.
Trotz ihrer Unterschiedlichkeit sahen alle gleich aus … wie aus einer Zelle geklont. Dieselbe gedrungene Erscheinung mit breiten Schultern und ausdrucksstarken Gesichtszügen. Und … sie waren alt.
*
Das Spermium stockte, um den Bruchteil einer millionstel Sekunde, und setzte seinen Weg zur Eizelle fort. Von der Natur vorgegeben, vereinten sich die Fortpflanzungsmechanismen und starteten den chemischen Vorgang, der Leben genannt wurde. Die Kern-DNA des männlichen Gameten tauchte in das Zytoplasma und vermischte sich mit der maternalen DNA.
Der physikalische Akt der Fortpflanzung war abgeschlossen … der biologisch, chemische begann.
Dunkelheit … Rauschen … steter Pumpenschlag … Darmgeräusche … Wohlgefühl … Lust … Geborgenheit … Wärme … Angst … Ohnmacht …
Aus Gefühlen und Empfindungen wurden Gedanken und traten in den Vordergrund. Gedanken, die nicht sein konnten, nicht sein durften.
ES dachte zum ersten Mal. ES erinnerte sich zum ersten Male.
„ Ego cogito, ergo sum.“ Der Gedanke stand im Nichts. „Ich denke, also bin ich.“ Eine kleine Pause. „ René Descartes … ein Philosoph. Verdammt noch mal. Wer oder was ist ein Philosoph? “
ES nahm Empfindungen auf, die falsch waren - oder besser gesagt, das Wissen darüber nicht vorhanden sein konnte. ES besaß keinerlei persönliche Erfahrungen und konnte keine Erinnerung haben.
Das sich bildende Bewusstsein wurde zur Verzweiflung. ES war gefangen. Die Dunkelheit wurde zur Belastung und engte den Denkprozess ein.
Dunkelheit?
Nein. Ein augenblicklicher Zustand der Nichtwahrnehmung. Das Sehen würde kommen.
ES bestand aus Erinnerungen. „ … die mentale Wiederbelebung früherer Erlebnisse und Erfahrungen. Unmöglich … “ Doch der Verstand arbeitete und verarbeitete Wissen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
„ Ich denke, also bin ich.“ Der Gedanke wurde Philosophie, der Haltepunkt des Denkens. ES schwebte im Sein und Nichtsein, im Augenblick des Werdens und Sterbens … in dem Augenblick des Lebens, der sich nur einmal wiederholte … am Ende der Existenz.
ES wechselte von Ruhephasen zu Wachzuständen. Unendlich langsam umschloss ein Körper das Denken. ES war entstehendes Leben in einem Säugetier der Gattung Mensch.
ES war noch nicht geboren. Wellartige Gedanken überschwemmten den wachsenden Embryo, pflanzten sich fort, vermehrten sich – wurden zu Begriffen, Vorstellungen und Gefühlen. Im Hintergrund lauerte das Wissen darum, dass die Situation, in der ES sich befand, nicht sein konnte … sein durfte … einfach unmöglich war. Dennoch … ES war da und dachte.
Um nicht verrückt zu werden, meditierte ES und erschloss das Gefängnis, in dem es sich befand.
Der Wirtskörper gab Geborgenheit, Wärme und andere angenehme Empfindungen, die die Ängste gegenstandslos werden ließen. Eine daumendicke Verbindungsleitung versorgte ES.
Mit unbeholfenen, dennoch vorsichtigen, Tastversuchen begann ES, den Wirtskörper zu erforschen. Das ungeborene Leben schickte Gedankenfühler, die Nervenbahnen entlang und gelangte an den Ursprung des Wirtskörpers. Dorthin, wo das Leben herkam.
Hier pulsten und rasten Elektronen, verhielten hier oder dort und vereinigten sich zu Befehlen und Nachrichten. Die Eindrücke überwältigten den Embryo und ES zog sich in eine Ruhephase zurück, um dann wieder den Wirtskörper und das Zentrum des Lebens, das Gehirn genannt wurde, zu erkunden. Am Rande war noch etwas anderes.
„ Hallo“, schlich ein Gedanke heran und ES verstand einen Gruß.
„ Hallo“, antwortete ES vorsichtig. „Wer bist du?“
„ Ich bin Hein.“
„ Und was tust du? Was bist du? Bist du auch in diesem Körper?“
„ Ich beobachte und wache. Was ich bin, weiß ich nicht. Ich bin einfach und … überall.“
„ Das ergibt keinen Sinn. Bist du auch ungeboren?“
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