1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Lassen nicht solche Geschichten ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber allen anderen entstehen? Über Armut, über Katastrophen, über Inkompetenz, über Korruption, über Willkür? Und Überlegenheit gegenüber Personengruppen wie Asylsuchende und Asylanten, über Flüchtlinge und Wirtschaftsflüchtlinge, über unerwünschte und nützliche Einwanderer, über Obdachlose und arbeitsscheue Sozialhilfeempfänger, usw., usw.? Sind wir nicht besser dran? Haben wir nicht mehr aus uns gemacht? Wir? Wir die Zivilisierten, die Überlegeneren? Müssen wir nicht stolz auf uns sein?
Seit wann lernen wir, daß es eine unterschiedliche Wertigkeit von Menschen nach äußeren Merkmalen gibt wie: groß – klein, stark – schwach, blond – nichtblond, blauäugig – nichtblauäugig, weiß – schwarz und die vielen anderen „rassischen“ Merkmale. Was ist „Rasse“? Seit wann gibt es das Bewußtsein, daß es „Rassen“ von Menschen mit unterschiedlicher Qualität gibt? Wann ist die „arische Rasse“, die in allen Belangen den übrigen „Rassen“ überlegen sein soll, erfunden worden? Und wann ist zum ersten Mal vom Stamm der „Indogermanen“ bzw. der „Indoeuropäer“ gesprochen worden? Entdeckt oder erfunden? Gibt es tatsächlich die „arische Rasse“, die „Indogermanen“, die „Indoeuropäer“, oder sind es doch nur nützliche Phantasien? Seit wann gibt es Kategorien wie: „Wir“ und „die Anderen“?
Müssen wir uns beispielsweise nicht fragen, wie reiche Länder reich geworden sind? Wieso werden die Reichen immer reicher, auch innerhalb der reichen Länder? Wieso jagen die reichen Staaten waffentechnisch unterlegene Staaten? Wieso verstecken sich die reichen Staaten hinter immer unterschiedlicheren Fassaden wie beispielsweise die „NATO“, die „internationale Staatengemeinschaft“ und jagen gemeinsam andere Staaten und attackieren andere Kulturen. Was ist die „NATO“? Was ist die „internationale Staatengemeinschaft“? Wer steckt dahinter? Welche Staaten sind es, die sich zu dieser „internationalen Staatengemeinschaft“ zusammengefunden haben? Warum reichen dieser „internationalen Staatengemeinschaft“ die „Vereinten Nationen“ nicht? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Jagd der „internationalen Staatengemeinschaft“ auf die schwachen Staaten einerseits und der Jagd auf fremde Menschen innerhalb dieser „Staatengemeinschaft“ anderseits? Und dann: Wer innerhalb dieser „Staatengemeinschaft“ jagt wen? Sind die Gejagten nur Fremde?
Müssen wir uns nicht fragen und wissen wollen, wie es den Heranwachsenden zu Mute ist, wenn „Promis“ mit Leibwächter die „anständige Bevölkerung“ auffordern, in der Öffentlichkeit „Gesicht“ zu zeigen und den „Aufstand der Anständigen“ zu proben? Im 21. Jahrhundert? Würden beispielsweise die gleichen Aufforderungen in Deutschland erfolgen, wenn die Neonazis nicht Synagogen und jüdische Friedhöfe schänden würden, aber doch Jagd auf Menschen „minderwertiger Rassen“ machten? Oder wenn überall innerhalb der „Staatengemeinschaft“ Synagogen und jüdische Friedhöfe im gleichen Umfang geschändet würden?
Fällt es nicht auf, welche Inflation von Erklärungen für diese Übergriffe von den vielfältigen „Medien“ geliefert wird? Ist es nicht immer ein Wettkampf der Prominenten untereinander, um die griffigste, um die am leichtesten verkäufliche Erklärung loszutreten? Zu welchen Themen auch immer? Wie heißt es so schön? Heißt es nicht unisono , Themen „besetzen“? Themen besetzen? Damit nicht auch bestimmte Antworten? Wie sollen wir in diesem lautstarken Lärm uns noch die Zeit nehmen zu fragen: was war in Solingen, Hoyerswerda, Rostock oder wo auch immer? Hat es nicht schon immer „einen Aufstand der Anständigen“ gegeben?
Wer erinnert sich noch, was beispielsweise die deutsche Filmregisseurin Doris Dörries anläßlich „eines Aufstandes der anständigen Kulturpromis“ nach den mörderischen Übergriffen in Rostock im Thalia Theater in Hamburg als etwas Programmatisches unterbreitet hatte? Sie hatte damals gemeint, daß das „Wegschauen“ nichts mit dem „Anstand“, sondern mit der Angstzu tun hat. Angst gegenüber Rowdies. Deshalb sollte jeder, so Doris Dörries im Thalia Theater in Hamburg, jeder sollte ein für alle sichtbares Zeichen in der Öffentlichkeit tragen (an dem Tag trugen viele ein lila Band) , damit wir an allen Orten wissen, daß wir gegen Rowdies nicht allein sind. So hatte Doris Dörries damals gemeint. Liveübertragung im öffentlich–rechtlichen Fernsehen. Riesenbeifall. Wie gesagt: nach „Rostock“. Wissen wir noch, wann „Rostock“ war? Vergessen wir nicht immer mehr. Immer schneller. Wieso wird unser Gedächtnis immer kürzer?
Dann im Jahre 2000 wird von „Promis“ mit „Body–guards“ vorgeschlagen, „Gesicht“ zu zeigen. Zehn Jahre nach „Rostock“. Wie sollen wir angesichts dieser Verhältnisse noch fragen können, was vor „Rostock“ war? Vor den „Türkenwitzen“? Vor den „Gastarbeitern“? Vor der „Reichskristallnacht“? Vor der Machtübernahme Hitlers? Vor „Mein Kampf“? Vor dem Ersten Weltkrieg? Vor dem Kolonialismus? Vor dem Zeitalter der „Aufklärung“? Fragen ohne Ende. Und natürlich ohne Antworten, weil wir ja solche Fragen eigentlich nicht stellen, nicht stellen sollen.
Aber wir haben uns an diese Spielregel nicht gehalten. Wir üben, Fragen zu stellen. Beispielsweise: Ist die Alltagsgewalt von heute tatsächlich neu? Die tägliche Jagd auf Fremde, auch gegen die sozial Schwachen wie Kinder, Frauen, Arme. Was sind die Grundpfeiler dieser Kultur, für die findige Köpfe – gut dotiert – sich immer neue Namen einfallen lassen und uns diese durch die vielfältige Mediengewalt täglich einhämmern? Zwingt nicht das Tempo der fortschreitenden Entwicklung die „Wissenschaftler“ den jeweiligen Stand dieser Kultur mit einem entsprechenden Namen zu charakterisieren? Bekommen wir nicht alle Jahre wieder einen neuen Namen für die gerade gegenwärtige Kultur bzw. Gesellschaft verpaßt? Hält die Namengebung noch Schritt mit dem „Fortschritt“? Können wir uns an all die Namen erinnern?
An einige Namen erinnern wir uns schon, die der Kultur oder der Gesellschaft vorangestellt wurden: Christliche, abendländische, europäische, industrielle, westliche, Nachkriegs–, demokratische, moderne, humanistische, post–industrielle, formierte, solidarische, Freizeit–, Informations–, Risiko–, Medien–, offene, globale, Internet–, interaktive, Spaß–, Fernseh–, usw., usw. Ist dieses Ritual der Namengebung, all die diversen Bezeichnungen für ein und dieselbe Gesellschaft, eher ein Ausdruck besonderer Phantasie, besonderer Genauigkeit? Oder ein Ausdruck der Verlegenheit? Eine Suche nach Identität? Oder der verzweifelte Versuch, wesentliche Charakteristiken dieser Kultur zu verschleiern, die Aufmerksamkeit ständig auf den oberflächlichen Wandel und auf die technologische Entwicklung zu lenken? Wer hat Angst davor, daß wir die Grundpfeiler unserer Kultur selbst entdecken und sie benennen? Sind wir dazu nicht in der Lage? Sind wir zu dumm? Wenn es so wäre, warum das unaufhörliche Einhämmern, warum so viel Aufwand um die sogenannte politische Bildung? Oder sind wir doch nicht dumm? Und deshalb das Einhämmern? Pausenlos. Wir lassen die Fragen als Merkposten stehen.
Wir haben uns auf die Suche gemacht. Unsere Mittel sind bescheiden. So haben wir mit schlichten Fragen begonnen. Wer erzählt uns was? Und woher weiß der betreffende Erzähler das, was er uns erzählt? Unsere Fragen sind zwar einfach, aber sie haben wie Dynamit gewirkt. Auch deshalb, weil wir beharrlich sind und uns nicht mit geläufigen Scheinantworten abspeisen lassen. Wir dokumentieren diese unsere Suche und die Fundstücke. Wir stellen sie zur Diskussion. Damit wir alle immer besser Fragen stellen lernen. Damit wir im täglichen Leben nicht unter die Räder kommen.
Читать дальше