Zungenkuss
Ein Abend zu zweit
Ausgebootet – Ausgeknockt
Ruth Montnacher
Die Gulaschlüge
Essen bei August
Ist Onkel August tot?
Küchenerklärung
Der Kornblumenprinz
Millis Grab
Essen zu acht mit Leerplatz
Der Einzug
Echte Freunde
Truckerlove
Stilles Drama
Freund und Leid
Lohnsteuerjahresausgleich
Henkersmahlzeit
Wassermelone, Kirschen und Sterne hautnah
Palmaomelette
Hals über Kopf
Der Weg zur Eisdiele
Kein stiller Freitag
Buchbeschreibung:
Mehr als ein Jahr nach ihrem ersten Band überzeugen die Freunde erneut mit ihrem feinen Humor und dem Gespür für besondere Situationen. Ihre Freundeserfahrungen fließen in diese Anthologie ein. Einmal mehr zeigen sich die Autor*innen von ihrer kreativen Seite. Neben alten Bekannten werden auch neue Freunde und deren Freundschaften beleuchtet. Dabei spielt das Genießen eine große Rolle. Und Genuss ist mannigfaltig. Wir freuen uns, mehr von ihnen zu lesen.
Über die Autor*innen:
Andreas Berg, Matthias Deigner, Eva Greif, Ruth Montnacher, Martina Raguse, Nadejda Stoilova, Kathrin Thiemann
Genuss mit Freunden
und andere Geschichten
Impressum
© 2021 Baltrum Verlag GbR
BV 2133 – Genuss mit Freunden
Umschlaggestaltung: Baltrum Verlag GbR
Illustration: Baltrum Verlag GbR
Lektorat, Korrektorat: Baltrum Verlag GbR
Herausgeber: Baltrum Verlag GbR
Verlag: Baltrum Verlag GbR, Weststraße 5, 67454 Haßloch
Internet: www.baltrum-verlag.de
E-Mail an info@baltrum-verlag.de
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.
Genuss mit Freunden
Herausgeber
Baltrum Verlag
Baltrum Verlag
Weststraße 5
67454 Haßloch
Zungenkuss
Kathrin Thiemann
Vermutlich würde mir jeder bestätigen, dass es zwei Gruppen von Menschen gibt: Den einen läuft das Wasser im Mund zusammen, den anderen stellen sich vor Ekel die Härchen auf den Unterarmen senkrecht, wenn sie nur daran denken. Die einen lieben sie, die anderen verschmähen sie. Die Rede ist von einer leckeren und wunderbar zarten Rinderzunge. Ich gehöre zur ersten Gruppe, ganz eindeutig.
Mit dieser Delikatesse bin ich groß geworden. Meine Mutter war bei diesem Rezept damals für mich eine Sterneköchin. Wenn sie dieses Längliche – ja, was war es eigentlich? – kein Braten, eine Wurst auch nicht. Soll ich es Kochfleisch nennen?
Wenn sie also die Zunge frisch zubereitet hatte, wäre ich am liebsten gleich mit einem Messerchen an die zarte Spitze gegangen und hätte sie Scheibe für Scheibe stibitzt. Aus ihrem Schnellkochtopf war sie die Zarteste, die ich je gegessen hatte. Das Fleisch zerfiel fast auf der Zunge, auf meiner eigenen natürlich. Dieses Gefühl ist für mich bis heute Heimat, zu Hause.
In meiner eigenen Familie war ich die Einzige, die Zunge mochte. Mein Mann und meine Kinder wandten sich angewidert ab, wenn ich mir ein Stückchen vom Metzger mitgebracht hatte. Wie einsam ich als Zungenliebhaberin doch sein musste.
Neulich habe ich im Freundeskreis einige Menschen kennengelernt, denen es genauso geht wie mir. Auch sie stehen mit ihrer Vorliebe alleine in ihren Familien. Wir kennen uns seit Jahren und wussten bisher nichts von unserer gemeinsamen Leidenschaft. Wer will sich schon mit der Liebe zu einer Rinderzunge outen, noch dazu in unserer heutigen Gesellschaft voller Vegetarier und Veganer.
Nachdem wir vier uns auf einer Geburtstagsfeier als diese Art von Genussmenschen gefunden hatten, war das nächste Treffen schnell organisiert. Reihum, so verabredeten wir, wollten wir uns einladen und unsere verschiedenen Rezepte einander vorstellen. Wir beschlossen, in Zungen zu schwelgen und dabei unter uns zu sein. Die jeweiligen Verschmähenden mussten für unser Glück so lange das Haus verlassen.
Wir starteten bei Klaus, er kochte Zunge auf Linsen mit Essiggürkchen, ein schwäbisches Gericht. Es schmeckte völlig anders, als ich es kannte, aber war doch lecker. Beim nächsten Mal war ich die Gastgeberin. Ich wälzte Kochbücher und das Internet, entschied mich dann für das Rezept meiner Mutter, wenn auch ohne Schnellkochtopf, ihm traute ich wegen der Explosionsgefahr nicht. Ihr Zettel lehnte am Küchenfenster, während ich die Zunge zunächst wusch und mit klein geschnittenem Suppengemüse in einem großen Topf aufkochte. Es schäumte anfangs unangenehm, lecker sah das ganz und gar nicht aus. Diesen graubraunen Schaum musste ich immer wieder abseihen, denn er sah furchtbar eklig aus. Den Küchenwecker stellte ich anschließend auf zwei Stunden, solange brauchte die Zunge in jedem Fall.
Mittags machte sich meine Familie auf den Weg außer Haus, darauf hatte ich bestanden. Ich bemühte mich, mir von ihren Blicken und dem Rümpfen der Nasen nicht meine Laune verderben zu lassen. Endlich schloss ich die Tür hinter ihnen. Ein herrlich langer Nachmittag zum gemütlichen Kochen und der Abend mit meiner Genussgruppe lagen vor mir.
Die Zunge köchelte leise vor sich hin, und ich ließ mich auf dem Sofa nieder, legte die Füße hoch und schaltete den Fernseher an. Sturm der Rosen, auch diese Seniorenserie gehörte zu meinen Geheimnissen. Leider nickte ich dabei ein, erst das Klingeln des Küchenweckers holte mich in die Realität zurück. Die Zunge!
Zwei ganze Stunden hatte ich geschlafen. Ich sprang auf, es roch zum Glück nicht angebrannt. Den Deckel riss ich hoch und war überrascht. Sie lag noch gut bedeckt in der siedenden Brühe.
Mein Blick auf den Zettel fand diesen Satz:
»Die Zunge ist gar, wenn sich die Spitze weich ansticht.«
Erwartungsvoll stach ich mit dem Küchenmesserchen hinein, die Spitze war weich. Also stellte ich den Herd ab, hob das Fleisch mit zwei Gabeln aus dem Topf und spülte es mit kaltem Wasser ab.
Weiter las ich:
»Die Haut abziehen, so lange sie noch heiß ist.«
Beherzt schnitt ich längs durch die inzwischen weiß gekochte Haut, mitten durch die dicken Papillen. Diese Haut sah wirklich nicht sehr appetitanregend aus, das konnte ich gut nachvollziehen. Sie war die Kontaktstelle zwischen der Kuh und ihrer Nase, zwischen der Kuh und allem Möglichen, woran sie geleckt hatte. Darüber wollte ich nicht weiter nachdenken. Nein, diese Haut musste ab.
Überrascht stellte ich fest, dass es nicht so schwierig war. Es war jedoch eine ziemlich heiße Angelegenheit, ich verbrannte mir immer wieder die Finger dabei. Ich konnte die Haut links und rechts vom Schnitt anheben und sie der Zunge einfach wie eine Jacke ausziehen. Meine Mutter hatte oft lange daran herum geschnippelt. Ich hatte wohl einfach Glück.
Es lockte mich, die zarte kleine Zungenspitze zu kosten. Ich schnitt sie ab und war begeistert, wie zart dieses Fleisch geraten war. Fast wie bei Mutter. Noch eines? Jetzt musste ich aber aufhören, sonst hätte ich vielleicht kein Ende mehr gefunden. Deshalb brachte ich die Zunge in den Keller zum Abkühlen. Am Abend musste ich sie nur noch aufschneiden und in der Soße wärmen. Ganz klassisch wollte ich Salat, Salzkartoffeln und Meerrettichsoße dazu reichen.
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