Mein Name ist Mindaugas
Mein Name ist Mindaugas - 1
Frank M. Buddrus
Für meine beiden Ls
Impressum
Texte: © Copyright by Frank Buddrus
Umschlag:© Copyright by Frank Buddrus
Verlag:Frank Buddrus
Waldsiedlung 33
14959 Trebbin
buddrus@web.de
Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH,
Berlin
Mundus a nobis tantum expectat de vita decedere
Die Welt erwartet von uns bloß, dass wir sterben
Die allermeisten Menschen müssen sich beim Warten auf den Tod vor allem deshalb nicht weiter ablenken, weil sie gar nicht auf den Tod warten. Ihnen wird erst auf Sichtweite klar, dass der Besuch des Sensenmanns unausweichlich ist.
Ich gehöre zu jenen Menschen, die warten, obwohl sie sich der Statistik nach noch eine Weile gedulden könnten. Die Beschäftigung mit der dunklen Brühe dient mir aber gerne als Ablenkung.
Mein Name ist Mindaugas. Mein Vorname wohlgemerkt. Ich bin nicht sonderlich stolz darauf.
>> Es war einfach eine Laune << , sagte meine Mutter, als ich sie auf ihr Motiv für die Namenswahl ansprach.
>> Keine Ahnung << , sagte mein Vater.
>> Man darf keinem Kind einen Namen geben, den es nicht schon irgendwo gibt << , wusste Henrik. Er selbst hatte „Mindaugas“ noch nie gehört und folgerte daraus, dass es den Namen nirgendwo gab. Die Frau aus der Stadtbibliothek war in dieser Angelegenheit anderer Auffassung. Ich hatte ihr mein Leid geklagt und sie gebeten, in ihren Registern nachzuforschen.
>> Mindaugas war der König von Litauen << , sagte sie, ohne in ein Register zu schauen.
>> Die erzählt Unfug << , sagte Henrik, der genauso wenig wie ich wusste, wer oder was Litauen war. Ziemlich bald blätterte ich in einem Lexikon. Für einige Stunden versank ich magisch gebannt in die Geschichte litauischer Könige. Die Vielzahl römischer Ziffern für Könige, Päpste und Großfürsten jener Zeit irritierte mich jedoch, und ich beschloss, das Interesse an der Herkunft meines Namens zu verlieren. Damit verlor ich gleichzeitig das Interesse an der Frage, warum man seinem einzigen Kind aus einer bloßen Laune heraus den Namen eines Königs geben konnte, der vor hunderttausend Jahren gelebt und Abermillionen Kilometer entfernt ein Land regiert hatte, von dessen Existenz gerade ein Dutzend Menschen auf der Welt überhaupt etwas wusste. Unsere Bibliothekarin und den Autor des Lexikons eingeschlossen.
Tihomir Krastevla hieß der neue Kaufmann in der Straße. Der kannte die Herkunft seines Namens gewiss auch nicht. Weder vom Vor- noch vom Zunamen. Oder Humpert Hadley. Einer unsere Mitschüler.
Da sich mein Name nicht auf etwas Doofes reimte, war er mir am Ende egal. „Mindy“ nannten mich meine Freunde, schon bevor wir Englisch in der Schule hatten. Damit konnte ich gut leben. Anspielungen auf weibliche Eigenschaften war ich nie ausgesetzt. Dies muss ich wohl der Tatsache zurechnen, dass ich etwas robuster daherkam, körperlich wie sprachlich. Im Rückblick verstand ich „Mindy“ durchweg als Respektsbekundung, nie als Häme.
Henrik nannten die meisten Henry. Seitdem wir Englisch hatten. Ich nannte ihn weiter Henrik. Ich wollte nicht so sein wie die meisten. Ich war es nicht, und ich bin es nicht.
Mein Leben bestand darin, zur Arbeit zu gehen und nach Hause zu kommen. Wenn ich bei der Arbeit war, machte sie mir keinen Spaß. Wenn ich Freizeit hatte, machte sie mir keinen Spaß. Wenn ich Bier trank, machte es mir einigermaßen Spaß. Wenn ich Radio hörte, machte es mir selten Spaß. Wenn ich fernsah, machte es mir selten Spaß. Andere Länder zu besuchen, machte mir selten Spaß. Wenn ich mit Freunden sprach, machte es mir manchmal Spaß.
Ich fahre mit dieser Aufreihung nicht fort, weil ich annehme, dass mein Gemüt hinreichend umrissen ist. Fakt ist: eben dieses Gemüt ließ mir reichlich Zeit, Bier zu trinken und mich mit dem Für und Wider des Lebens auseinanderzusetzen. Fragen zu stellen, Antworten zu bekommen, Antworten zu bewerten und neue Fragen zu stellen. Die dunkle Brühe eben.
Ich wohnte in einer großen Stadt. In einem jener Viertel, in denen man seine Kinder nicht aufziehen sollte. Ich war dort nicht aufgezogen worden und zog dort niemanden auf. Ich wohnte dort, weil es meinen beiden einzigen Kriterien entsprach. Es war günstig im Preis und nicht allzu weit von meiner Arbeit entfernt.
Vorgeplänkel zu den Anderen
Einer meiner Nachbarn war ein fetter Mann, dessen Alter ich auf Ende fünfzig schätzte. Seine Frau war eine fette Frau ähnlichen Alters. Beide kämpften mit ihren Lungen. Gemeinsam, wenn ich sie im Treppenhaus traf. Er allein, wenn ich ihn durch die dünnen Wände hörte. Treu um viertel vor sieben weckte er mich mit dem immer wieder aufs Neue mühsamen aber erfolgreichen Versuch, seine Lungen vom morgendlichen Schleim zu befreien. Das freute mich umso mehr, da er selbst keiner Arbeit nachging. Und so war er am Abend auch pünktlich um zehn im Bett, was sich auf mein eigenes Ruhebedürfnis positiv auswirkte. Manchmal traf ich den Schleimhustenwecker auf dem Balkon. Unserem gemeinsamen Balkon. Ich ließ mich dort nicht oft blicken. Weil ich keine Lust hatte, meinen Nachbarn zu treffen. Ich denke, ihm ging es genauso. Er kam zum Rauchen hinaus. Und zum Gaffen. Zu beiden Anlässen trug er ein weißes Unterhemd. Das Weiß strahlte nicht wie in der Werbung. Er war Asthmatiker und suchte eine Wohnung weiter unten. Das erzählte er wenigstens seit vier Jahren. Ich wohnte dort seit vier Jahren. Er erzählte das nicht nur mir, was ich verstehen würde, ich war nur sein Nachbar. Er erzählte das auch seinen Bekannten. Wenn sie ihn besuchten. Und am Telefon. Und er schimpfte viel mit seiner Frau. Wenn er in Rage war, schimpfte er gleich über die Hausverwaltung mit. Über sein verdammtes Recht, eine Wohnung weiter unten zu bekommen. Schon weil er Asthmatiker war. Ein rauchender Asthmatiker. Die Ärzte sagen, man solle das Rauchen lassen. Die Frau meines Nachbarn rauchte nicht. Sie wurde aber gerne vom Rettungsdienst geholt. Lungenleiden hörte ich den Nachbarn am Telefon erklären. Dann schimpfte er über die Hausverwaltung, weil sie es zugelassen hatte, dass seine Frau die vielen Stockwerke mühsam hinuntergetragen werden musste. Und er schimpfte über seine Frau. Weil sie es wagte, ihn während ihres Aufenthalts im Krankenhaus im Stich zu lassen.
Ich war der Überzeugung, dass seine Frau verreckte, noch bevor sie beide umgezogen waren. Und er würde über die Hausverwaltung schimpfen, weil sie ihm auch dann keine kleinere Wohnung zur Verfügung stellen würde.
Neben mir war ein Paar eingezogen. Meiner Einschätzung nach war es jung und damals erst seit kurzem zusammen. Noch war ich ihm nicht begegnet. Meine Einschätzung rührte aus den Signalen her, die durch die dünnen Wände drangen. Kein Zeichen eines Streits, nur die der Liebe. Häufige laute Liebe. Die Häufigkeit nahm ab, die Schallausbreitung ging zurück. Dann waren Techniker des Bezahlfernsehens im Flur. Danach konnte ich dem Fußballgeschehen von nebenan mühelos folgen und schreckte nur noch auf, wenn die Lieblingsmannschaft ein Tor schoss. Zärtlichkeit, Leidenschaft oder gar Hemmungslosigkeit waren Vergangenheit. In sexueller Hinsicht auf jeden Fall. Ein Hund zog fast zeitgleich ein. Die gemeinsame Verantwortung hätte ein harmonisierendes Moment bilden können. Tatsächlich aber entbrannte ein hemmungsloser Streit. Darüber, wer dem armen Tier bei der Ausübung seiner Rechte regelmäßig zur Seite stehen sollte. Der Köter konnte wie all seine Artgenossen nicht selbstständig von der vierten Etage auf die Straße und zurück, um seinen Instinkten nachzugehen. Erst recht nicht um sechs Uhr morgens. Wenn es draußen regnete. Ich wohnte in einem jener Viertel der Stadt, in denen man keine Hunde halten sollte. Es sei denn, man hatte Verwendung für verstörte Kampfhunde. Oder man scherte sich nicht um Verantwortung.
Читать дальше