>> Warum besuchst Du mich eigentlich nicht? << , fragte er nach einigen Jahren eher beiläufig.
>> Ich kann es Dir nicht sagen << , versuchte ich einmal auf die Frage, warum ich ihn nicht besuchte, meine Motive zu ergründen. >> Du weißt, ich bin nicht gerne auf Achse. << Ich wusste auch, dass er mich niemals mit Vorwürfen überschütten würde, deshalb nahm ich mir Zeit und ergänzte nach einer Weile: >> Ich glaube, es ist eine Mischung. Ich reise nicht gern und ich habe Angst, mir dumme Fragen zu stellen, warum Du dort bist und nicht hier. <<
>> Der erste Grund überwiegt, oder? << , stellte er zielsicher fest.
>> Ja << , gab ich zu, >> es würde mich aber trotzdem belasten, zu Dir zu reisen, mit all den Unannehmlichkeiten, nur um festzustellen, dass Du dort ein Leben führst, das Du hier viel besser führen könntest. <<
>> Kannst Du Dir das wirklich vorstellen? << , belastete er noch einmal meine Argumentation.
>> Ja << , wollte ich mich nicht ganz in die Ecke der Sonderlings drängen lassen, >> in der Abwägung, wo es besser ist, müssten dort schon Grillhähnchen an Bäumen wachsen und Bier zu jeder Tages- und Nachtzeit umsonst sein. <<
Er entgegnete nichts. Dafür liebte ich ihn. Er fuhr ab und kam wieder. Was mich neben der Unfähigkeit, die Strapazen einer langen Reise auf mich zu nehmen, wirklich an mir selbst ärgerte, war die Tatsache, dass ich seine neue Familie nicht kennenlernte. Rücksicht nehmend auf meine eigene Situation würde er nie mit seinem Glück prahlen. Ein Leid damit würde er jedoch auch nicht verbergen. Deshalb ging ich davon aus, dass es ihm nicht ganz schlecht erging. Ich war mir aber nicht wirklich sicher, ob sein Familienleben eine harmlose Zufälligkeit darstellte, eine dem Alter geschuldete und längst überfällige Selbstverständlichkeit, das große Glück oder eine reife Entscheidung nach langer Prüfung. Das große Glück wollte ich ausschließen, weil er mir sicher davon berichtet hätte, und ich im Zweifel schon lange eingefordert hätte, davon zu erfahren. Auch unter Berücksichtigung meiner eigenen Lebensweise, der Henrik sicher ein gehöriges Maß an Rücksichtnahme entgegenbrachte. Ich hätte es gemerkt, wie sehr er es auch zu verstecken versucht hätte. Genauso hätte ich gemerkt, wenn ihm seine Familie nichts bedeutet hätte oder er der Resignation anheimgefallen wäre. Also entschied ich nicht zum ersten Mal, dass es ihm gut ging, weil es einfach richtig war.
Ich traf meinen Nachbarn auf dem Balkon und musste mich wieder einmal wundern, welcher Verwandlung ich Zeuge wurde. Der Mann, der eben noch lautstark mit seiner Frau geschimpft hatte, an dessen regelmäßig cholerischem Leben ich dank unserer gemeinsamen dünnen Wände regelmäßig teilhaben durfte, dieser Mann wurde genauso regelmäßig zu einem Gentleman, wenn ich auf ihn traf. Nur sein ungepflegtes Äußeres konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich ihm nicht im Theater oder auf einer Nobelpreisverleihung begegnete. Mimik, Haltung und Stimme jedoch nahmen aristokratische Züge an. Er nickte mit dem Kopf, grüßte freundlich, entschuldigte sich für etwaigen Zigarettenqualm, der in mein Anwesen eingedrungen sein konnte und parlierte in heiteren Worten über das herrliche Wetter. Ich grüßte zurück und erkundigte mich nach seinem Befinden.
>> Prächtig, prächtig, Herr Nachbar << , entgegnete er und schränkte gleich ein: >> Natürlich nur im Rahmen der Umstände. Danke allerdings der Nachfrage. Ihnen geht es hoffentlich auch gut? <<
>> Danke, danke << , antwortet ich, >> wie kann es einem an einem solchen Tag auch schlecht gehen, nicht? <<
Seine Frau kam hinzu und quetschte sich neben ihren Gatten. Sie versuchte, sich der Konversation anzuschließen, jedoch waren ihre Talente, das Spiel richtig zu spielen, begrenzt. Mit leicht geneigtem Kopf krächzte sie: >> Guten Tag. Wie geht es Ihnen? <<
>> Danke, gut. Das sagte ich auch gerade ihrem Gatten. Es ist ein so schöner Tag << , plapperte ich, >> und Ihnen? <<
>> Naja << , hustete sie, >> es ging schon mal besser. << Ihr Mann schaute sie böse an. Schnell verbesserte er: >> Selbstverständlich geht es ihr gut, Herr Nachbar. Sie ist noch etwas müde. Der gestrige Tag war sehr anstrengend. <<
>> Gestern? << , blaffte sie zurück und kramte sichtlich angestrengt in ihrem Gedächtnis.
>> Das interessiert unseren Nachbarn nicht << , bestimmte er hastig und stupste sie mit dem Handrücken, >> lass uns wieder hineingehen. Der Herr Nachbar will auch mal seine Ruhe haben. <<
>> Nein, nein, nicht meinetwegen << , forderte ich höflich, was nicht verhindern konnte, dass die beiden nach drinnen verschwanden.
Niemals traf ich sie allein auf dem Balkon. Mag es daran gelegen haben, dass sie einen Moment an der frischen Luft nicht als wohltuend empfand, oder aber ihr Mann das Terrain als das persönliche Refugium zur Befriedigung seiner Nikotinsucht erklärt hatte, es war in jedem Fall sonderlich, da sie nicht selten dazu stieß, kaum dass ich mich in eine kurze Unterhaltung mit dem Nachbarn eingelassen hatte. Während er für sein Gespräch mit mir offenkundig eine hohe Konzentration aufbrachte, ging sie weitaus entspannter ans Werk.
>> Sie haben aber selten Besuch << , stellte sie zum Beispiel einmal fragend fest, was ihrem Gatten an gleicher Stelle die Schamesröte ins Gesicht trieb.
>> Ja, ich bin ein Eigenbrötler << , gab ich entspannt zu.
>> Aber Damenbesuch haben sie auch nicht << , drang sie ohne den Anschein allzu großer Neugier in den intimen Bereich vor. Ihr Mann schloss die Augen und erweckte den Eindruck, Stoßgebete gen Himmel zu richten. Ein leises Grunzen verriet, dass er damit kämpfte, in den Dialog einzugreifen. Ich tat ihm und ihr den Gefallen, die Frage bereitwillig zu beantworten und nicht im Mindesten den Eindruck zu erwecken, dadurch belästigt worden zu sein.
>> Das habe ich durch << , erklärte ich fröhlich, >> da müssen schon Zeichen und Wunder geschehen. Wenn Sie dereinst Kenntnis davon erlangen, wünschen Sie mir Glück. <<
Ich war mir nicht sicher, ob ich verstanden wurde. Sie sagte: >> Ich drücke Ihnen auf jeden Fall die Daumen. <<
Er polterte fast zeitgleich hinaus: >> Lassen Sie sich dadurch nicht beirren. <<
Ich stutzte, weil ich in Erwägung zog, dass er damit die Äußerung seiner Frau gemeint haben könnte, schloss das aber sogleich aus. Er selbst hatte auch bemerkt, dass er mit seinem Rat an dieser Stelle nicht optimal reagiert hatte und fügte hinzu: >> Sie machen schon das Richtige, da bin ich überzeugt. <<
Ich selbst war überzeugt, dass er dabei insgeheim seine eigene Ehe im Auge hatte und mich einen kurzen Augenblick sogar beneidete.
Ihren Lebensunterhalt bestritten sie durch eine Teilzeitanstellung in einem Supermarkt, der sie nachging, und einer behördlichen Unterstützung, der er seine volle Aufmerksamkeit schenkte. Die Frage, wie das gemeinsame Einkommen aufgebessert werden konnte, beantworteten beide mit einer klaren Erwartungshaltung gegenüber den bisherigen Geldgebern. Eine Ausweitung ihrer diesbezüglichen Anstrengungen über diese Erwartungshaltung hinaus jedenfalls kam ganz und gar nicht infrage. Sie waren krank und es hatte ganz den Anschein, als wäre diese Krankheit ihrer aufopferungsvollen Hingabe für die Arbeit und das Land geschuldet. Anders konnte ich jenen Monolog nicht verstehen, dem ich lauschen durfte, und der wohl tatsächlich einen Telefondialog darstellte.
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