Ich ging davon aus, dass sie schwanger von ihm wurde. Er würde seiner jungen Jahre wegen das Weite suchen, ohne das Bezahlfernsehen vorher abzumelden. Den Hund würde er am wenigsten vermissen. Sie würde zu spät merken, dass ein Hund, ein Bezahlfernsehenabonnement und ein Neugeborenes zu viel des Guten sind. Ich grübelte, wovon sie sich zuerst trennen würde.
Unter mir wohnte Frau Pauli. Sie war einundachtzig Jahre alt. Anders als meine dicken Nachbarn schaffte sie die Treppen noch ganz gut alleine. Augen und Geist hatten jedoch gelitten. Manchmal suchte sie mich auf. Am Anfang fehlten ihr nur Zutaten zum Kochen. Eier, Milch, Mehl. Später musste ich Strahlen aus ihren Räumen entfernen. Mit einer Sprühflasche. Ich bot ihr an, bei ihr ein wenig sauberzumachen, was sie ablehnte. Ihre Kinder machten das schon, wenn sie kämen.
Ich glaubte nicht, dass sie je kamen. Wenn es sie überhaupt gegeben hatte und noch gab. Sie würden nicht einmal kommen, um die Wohnung zu räumen. Das würden drei oder vier abgehalfterte Gestalten machen. Die würden die Schränke ausräumen und alles in blaue Müllsäcke werfen. Das ein oder andere würden sie zu verkaufen versuchen. In einer Verkaufsbaracke, die noch armseliger war, als die Wohnung von Frau Pauli. Frau Pauli würde wahrscheinlich von einem ihrer Nachbarn gefunden werden. Wenn der Verwesungsgeruch ins Treppenhaus drang. Bis dahin würde sie in trauter Regelmäßigkeit kochen, backen und mich ab und zu um Hilfe bitten.
Im Erdgeschoss wohnte Hannelore. Frau Doktor Hannelore Lamprecht. Sie war Internistin. Mit ihr war ich mal ein Paar. Kein junges. Aber auch eines, das nur kurz zusammenblieb. Und auch eines, das die dünnen Wände des Hauses strapazierte. Darauf lag im Übrigen ihr Hauptaugenmerk. Leider nicht das meine, was unserer Beziehung wenig Stabilität verlieh. Ich will nicht verhehlen, dass ich mir gewünscht hatte, länger mit ihr zusammen zu bleiben. Am Ende war ich nur froh, von der Boshaftigkeit verschont worden zu sein, die aus der Liebe gebastelt wird, wenn klar wird, dass sie einseitig ist.
Sie würde noch ein paar holprige Versuche unternehmen, so war ich mir sicher, einen akzeptablen Mann für ihre Bedürfnisse zu finden, um schließlich mit jüngeren und mittellosen Männern in eine heimliche Form des Gebens und Nehmens einzutreten. Sie würde ihr Äußeres mühsam aber vergeblich vor dem Verfall bewahren wollen, was groteske Züge annehmen würde.
Ich selbst, so spekulierte ich, würde noch einige Jahre Bier trinken, mich mit diversen Fragestellungen auseinandersetzen und dann allmählich körperlichen Gebrechen Gelegenheit zum Austoben geben. Diesen würden Depressionen folgen, die mich zu einer armen Gestalt, einer noch ärmeren, als ich sie bereits war, würde verkommen lassen. Mein Ende würde ich im Pflegeheim finden, einsam und verbittert. Mein letzter Tag, so nahm ich mir vor, würde der sein, an dem ich den Fernseher mit der Fernbedienung nicht mehr würde einschalten können.
Henrik war solchen Gedanken gegenüber wenig aufgeschlossen. Ich schrieb sie ihm regelmäßig. Ob ihm das gefiel oder nicht. Es gefiel ihm nicht. >> Mindy << , so antwortete er, >> Du hast zu viel Scheiße im Hirn. Trink mehr oder geh mehr raus! << Seine Nachrichten waren stets kurz. Er lebte irgendwo am anderen Ende der Welt. Mit einer Frau vom anderen Ende der Welt und Kindern, die sicher nur die Sprache des anderen Endes der Welt sprachen. Sicher kannten sie schon lange das Wort „Scheiße“ in ihrer Sprache. Seine Nachrichten waren kurz, weil ich auf seine eigenen Schilderungen nie eingegangen war und ihm meine Überlegungen wohl auf den Zeiger gingen.
Ich folgte seinem Rat und trank mehr.
Henrik und ich waren seit unserer Jugend engste Freunde. Unsere Freundschaft wurde nicht oft auf die Probe gestellt und überstand solch seltene Momente in der Regel ohne größere Blessuren. Als wir fünfzehn oder sechzehn Jahre alt waren, verliebte sich Henrik in ein Mädchen, das erst seit kurzem in unserer Nachbarschaft wohnte. Er scharwenzelte ganze Nachmittage um sie herum und ließ nicht davon ab, ihr mit jugendlichen Albernheiten imponieren zu wollen. Er erzählte schlüpfrige Witze, vollführte akrobatische Turnübungen und versuchte sich an Zaubertricks, die er mit mir abends mühsam einstudierte. Als er damit keinen Erfolg verbuchen konnte, wechselte er bewusst oder unbewusst die Strategie und bot allerlei Dienste feil. Er erledigte ihre Hausaufgaben, reparierte ihr Fahrrad, begleitete sie als Träger bei Einkäufen und machte sich auch sonst zum willfährigen Lakaien. Ich schimpfte mit ihm. Wenn wir allein waren. Seine Rechtfertigung stand logischerweise auf dünnem Fundament. Er wollte mir weismachen, aus Berechnung zu handeln, während ich ihm vorwarf, schon längst ein Opfer geworden zu sein. Einige Zeit später, er war in seinem Bestreben nicht viel weitergekommen, änderte sich sein Verhalten mir gegenüber. Er redete in ihrer Gegenwart abfällig über mich, machte Zoten auf meine Kosten und ließ mich demonstrativ links liegen, sofern ich nicht als Prügelknabe dienlich sein konnte. Unsere regelmäßigen zweisamen Treffen mied er, wusste er schon, dass er für dieses Verhalten mehr als nur Kritik von mir zu erwarten hatte. Dass keine Erklärung der Welt eine angemessene Entschuldigung darstellte. Mein Gram darüber legte sich jedoch nach geraumer Zeit, und ich bildete mir endlich ein, für sein Verhalten Verständnis aufbringen zu können. So betrachtete ich seine Bemühungen fortan aus der Ferne und freute mich schon auf den Tag, da er mit eingezogenem Schwanz bei mir vorbeikommen und um Verzeihung betteln würde. Zu meiner Verwunderung erhörte die Angebetete sein Flehen und ging mit ihm das ein, was man im fortgeschrittenen Alter eine Beziehung nennen würde. Fast im gleichen Augenblick bedurfte der Bräutigam eines sozialen Umfelds, interessanter Freunde und lustiger Vorschläge für die Freizeitgestaltung. Urplötzlich wurde ich vom Pantoffelabtreter zum Freund der Familie befördert. Zumindest, was seine Vorstellung und sein Verhalten mir gegenüber anging. Dass er eine solche Rechnung nicht mit mir machen durfte, hätte ihm allerdings klar sein müssen. Ich vermied nun meinerseits den Kontakt zu ihm und ihr und engagierte mich stärker in der Schule, was zum Wohlgefallen meiner Eltern zu einer Verbesserung meiner Noten führte. Einer vorübergehenden Verbesserung.
Unvermittelt und unerwartet stand er einige Monate später in meinem Zimmer. Meine Eltern hätten es sich zweimal überlegt, ihn in die Wohnung zu lassen, hätten sie den Zusammenhang mit meinen schulischen Leistungen erkannt. Mit hängenden Schultern und fragenden Augen schaute er mich an.
>> Arschloch << , sagte ich, seine gewohnt gewöhnliche Ausdrucksweise imitierend. Ich hoffte, er würde nichts entgegnen. Tatsächlich blieb er still. Er setzte sich hin und senkte seinen Kopf. Sekunden vergingen und fühlten sich wie Stunden an.
>> Doppelarschloch! << , durchbrach ich die Stille. Er bemerkte an meinem Ton, dass ich ihm längst vergeben hatte, nutzte das aber nicht aus, um etwa sofort die Normalität zurückzufordern. Er sagte nichts.
>> Hast Du Schluss gemacht? <<
>> Ja << , antwortete er leise.
>> Na, wenigstens das << , raunzte ich erleichtert. Er war an diesem Abend und auch Tage später noch mundfaul, was ich ihm hoch anrechnete.
Henrik war alles andere als gut in der Schule, was weder ihn noch seine Eltern zu stören schien. Ganz im Gegenteil. Jede Diskussion rund um dieses Thema erweckte den Eindruck einer besonderen Motivation. In seinem Elternhause wurden Späße darüber gemacht und skurrile Vorsätze gemeinsam verabschiedet.
>> Im nächsten Zeugnis muss die Summe aller Noten gerade sein << , forderte sein Vater, selbst Lehrer für Mathematik.
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