>> Mal sehen << , blaffte er, >> ich weiß ja noch gar nicht, wohin sie sie gebracht haben. Das ist für mich ja eine Tortur. Nachher behalten die mich gleich da. Auszuschließen wäre das nicht. Wenn ich es überhaupt bis dahin schaffe. Du kennst ja meinen Zustand. <<
Ich musste mit anhören, wie das Schicksal meiner armen Nachbarin in den Hintergrund trat und das Leid des zurückbleibenden Ehemanns an Raum gewann.
>> Es musste so kommen. Ich habe es ja immer gesagt << , offenbarte er sich als Prophet, >> eines Tages stehe ich allein da. Krank und hilflos. Verlassen von allen. Und wenn ich dann krepiert bin, dann jammern alle. Dann will es keiner gewesen sein. Aber dann ist es zu spät. Zu spät. Viel zu spät. <<
Er atmete so heftig, dass ich fast glaubte, seine Krankheit würde ihn wirklich einholen. Sein Gesprächspartner schien die Botschaft aber verstanden zu haben.
>> Ich wusste, dass ich auf Dich zählen kann. Dass ich mich auf Dich verlassen kann. Du bist halt noch ein echter Freund. <<
Es wurde anscheinend etwas vereinbart.
>> Ja, morgen. Aber nicht zu früh. Ich muss sicher lange schlafen nach der Aufregung. Du kannst ja Brötchen mitbringen. Ich freu mich schon. <<
Mein Nachbar wollte anscheinend auflegen, wurde aber durch die Erwähnung seiner gerade abtransportierten Frau zurückgeworfen.
>> Ja, die. Nein, die, die werde ich nicht besuchen. Die braucht doch erst mal ihre Ruhe. Und wie gesagt, für mich ist das alles andere als ein Spaziergang. Das ist für mich eine ernste Belastung. Mit geht es doch noch schlimmer. Viel schlimmer. Dagegen ist das ein Fliegenschiss. <<
Die offensichtliche Frage, warum dann der Notarzt die Frau und nicht ihn abgeholt hatte, wurde wohl auch am Telefon gestellt.
>> Ich jammer halt nicht so rum. Du weißt ja, wie Frauen sind. <<
Er lachte: >> Dafür sterben wir Männer auch früher. Ich hätte mich gleich mit einliefern lassen sollen. Aber dafür bin ich zu stolz. Du kennst mich ja. <<
Es folgten noch einige kurze Laute der Bestätigung, bevor er das Ende des Gesprächs aktiv suchte.
>> Du, ich muss jetzt Schluss machen. Ich brauche den Schlaf wirklich. Das steckt man nicht so eben weg. <<
Bevor er auflegte, sagte er noch: >> Und vergiss die Brötchen nicht. <<
Als die Abrechnung der Nebenkosten in Briefform in unseren Briefkästen lag und jedem der Mieter eine stattliche Nachzahlung abverlangen wollte, geschah im Haus etwas Merkwürdiges. Dort, wo Türen erst dann geöffnet wurden, wenn der Weg nach draußen ohne jede Begegnung stattfinden konnte, standen sie nun speerangelweit offen, um bloß jeden, der das Treppenhaus durchquerte, mit der abenteuerlichen Geschichte des größten Betrugs seit Menschengedenken zu konfrontieren. Um festzustellen, dass man nicht das einzige Opfer war. Um der eigenen Empörung eine Anhängerschar zu verschaffen.
Ich kam spät nach Hause. Nicht spät genug, als dass sich die Aufregung gelegt hätte. Im Treppenhaus herrschte reges Treiben. Selbst Hannelore und Frau Pauli bewegten sich dazwischen. Sie waren jedoch offensichtlich nicht aus eigenem Antrieb vor die Wohnung getreten, sondern selbst aufgehalten worden. Die Rechnung, die allen in gleicher Weise offenbart worden war, bot durchaus Anlass zur Beunruhigung. Ich zählte mich nicht zu jenen, die jeder Zahlungsaufforderung klaglos folgten, auch gehörte ich nicht zu den Querulanten, die im Supermarkt nach der Kasse das abendfüllende Rechnen anfingen, nur, um eine halbe Stunde später einen Streit über die Frage vom Zaun zu brechen, ob die Milch in der Vorwoche nicht günstiger gewesen war und deshalb ein unabweisbarer Anspruch bestand, den gleichen Preis auch heute zu bekommen. Die Nebenkosten hatten durchaus eine Menge Potential, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Der Spießrutenlauf zu meiner Wohnung hatte vier Stationen, an denen sich weniger der Kopf zerbrochen, als vielmehr der Wut ein Ventil geschaffen wurde. Als ich vor meiner Haustür stand, hatte ich, um schon einmal kurz vorzugreifen, von der Mehrzahl der Parteien erfahren, dass die Hausverwaltung auf ihren Forderungen sitzen bleiben würde. Wenige Wochen später, nebenbei erwähnt, bekam ich einen Brief, der mir erklärte, dass ich zu wenigen gehörte, die säumig waren und die Sache mit einem kleinen Aufschlag auf die geforderte Summe aus der Welt schaffen konnten.
Im Erdgeschoss wurde Hannelore von zwei Menschen aufgehalten, die weder sie noch ich je als Nachbarn wahrgenommen hatten. Hätten sie sich nicht einer gepflegten Sprache bedient, hätte ich angenommen, Menschen zu begegnen, die von ihren Eltern im Kindesalter im Wald ausgesetzt worden waren und denen Wölfe das Überleben beigebracht hatten. Sie sahen zottelig aus und ihre Sorge um die Nebenkosten klang nach einer existentiellen Bedrohung.
>> Das ist unser Ende << , formulierte er ruhig.
>> Damit können wir einpacken << , wusste sie.
>> Wir müssen dafür Verständnis haben. Schließlich ist es nicht die Schuld der Verwaltung << , erwiderte Hannelore gelangweilt.
>> Das können wir nicht akzeptieren. Wir müssen Widerstand organisieren, sonst ist das der Anfang vom Ende, oder wie sehen Sie das? << , wurde ich in den Kreis der Besorgten hineingezogen.
>> Noch habe ich keine Meinung. Ich werde das studieren und mich gleich damit auseinandersetzen << , rettete ich mich mit dem deutlichen Willen, nicht zu verharren und keiner Diskussion beiwohnen zu wollen. Ich stieg die Treppen hinauf und kam nicht sehr weit. Auf der nächsten Etage hatte sich das zweite Protestkomitee breitgemacht. Es bestand aus einer Frau meines Alters und einem rüstigen Mann, deren weit aufgerissene Augen in ihrer Synchronizität den Eindruck erweckten, einem zu allem entschlossenen Paar gegenüberzutreten. Ihre Entschlossenheit kann ich nicht beurteilen, die Partnerschaft jedoch konnte, so hatte es den Anschein, nicht allzu innig sein. Zwei Wohnungen standen offen. Aus der einen lugte ein verängstigtes Augenpaar heraus; es gehörte zu einem Jungen im Vorschulalter, den ich schon ein paar Mal im Treppenhaus hatte herumlungern sehen. Er versteckte sich hinter einem Schränkchen im Flur, von welchem ich annahm, dass es wohl die Schuhe der Bewohner beherbergte. Zum Fichtenfurnier an einer abgegriffenen, ehemals weißen Raufasertapete im Umfeld des Jungen stand die massive Eiche der anderen Wohnung in Kontrast. Eine gewaltige dunkelbraune Garderobe ließ absolut keine Zweifel daran, eine zentrale Funktion zu erfüllen. Ein brauner Teppich und eine dunkelgrüne Tapete taten ihr Übriges, das Domizil stilsicher in einen Ort zu verwandeln, der jeden Besucher auf eine Zeitreise mitnehmen würde.
Noch ehe ich mir weitere Gedanken über das Bündnis der beiden Parteien machen konnte, hatte ich entschieden, ihm nicht mehr als nötig Aufmerksamkeit zu schenken und mit einem kurzen Gruß den Aufstieg fortzusetzen.
„Haben Sie auch“ und „Hausverwaltung“ waren die einzigen Wortfetzen, die ich aufschnappte, die mich aber nicht veranlassten, meinerseits in eine verbale Kommunikation einzutreten. Als ich auf der nächsten Ebene verschlossene Türen vorfand, sah ich vor meinem inneren Auge den Kelch bereits an mir vorbeiziehen.
Wäre da nicht eine selbstbewusste Frau Pauli auf der nächsten Etage gestanden, ich hätte jede Menschenansammlung überlaufen. Sie hatte den Brief sogar in der Hand, während sie mit ihrem Nachbarn eine offenbar anregende Diskussion führte.
>> Wir haben wohl alle Post bekommen << , scherzte ich, ein wenig außer Atem.
>> Das ist nicht halb so lustig, wenn man es nicht bezahlen kann << , frotzelte der Mann, der sich mit Frau Pauli im Gespräch befunden hatte. Ich hatte keine Lust, mich für meine Worte zu entschuldigen oder auch sonst wie nachsichtig zu sein.
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