Nach der Morgentoilette, ein paar Tassen Kaffee und einem Toast, der die Grundlage für zwei Kopfschmerz-Tabletten schaffen muss, telefoniere ich nach einem Taxi, das mich in die Stadt zu meinem Wagen bringen soll, stelle den Anrufbeantworter ein, nehme den Hund an die Leine und fliehe aus meiner eigenen Wohnung, in der ich mich plötzlich irgendwie nicht mehr sicher fühle.
*
Lydias und Stefans Haus sieht man die Handschrift des avantgardistischen Architekten an. Am gesamten Gebäude gibt es kaum eine rechteckige Wand, und auch die Verglasungen sind sicher nicht als Norm-Anfertigungen in einem Baumarkt zu haben. Stefan hat mit seiner Liebe zum Detail und viel Glas und Stahl ein neuzeitliches Schlösschen entworfen, das in der Siedlung nur eine einzige Entsprechung findet. Auch dieses Haus entspringt Stefans Planung, ist entworfen worden, weil der zukünftige Nachbar einfach hingerissen war und unbedingt ähnlich wohnen wollte.
Während der knapp zehn Jahre, die ich mit Rolf, meinem Ersten, verheiratet war, habe ich Lydia insgeheim um ihren Mann beneidet. Nie musste sie um Stefans Anerkennung kämpfen, nie sich gegen seinen Willen auflehnen. Er hat sie von Anfang an als gleichwertige Partnerin respektiert. Stefan ist ein Mann, dem von seinem jungenhaften, erfrischenden Wesen, mit dem sich durch die Lebenserfahrung inzwischen sensible Reife gepaart hat, nichts verloren gegangen ist. Rolf dagegen ein Mensch, der - wie mein Vater - mit wachsendem Alter immer selbstgerechter, unbeweglicher und härter geworden ist.
Ich lenke meinen Wagen in die Einfahrt, stelle den Motor ab und bleibe noch einen Moment sitzen. Vielleicht war es gerade das, was mich an diesem Paul gestern so fasziniert hat, überlege ich. Er scheint in seiner Art Stefan sehr ähnlich. Unbekümmert, fröhlich und unverkrampft. Ganz anders als die meisten Männer meiner Generation. In der Regel wirkt deren versprühter Charme auf mich albern, aufgesetzt und krampfhaft bemüht. Spätestens ab vierzig starren sie alle so angstvoll auf diesen Wendepunkt vom jungen zum alten Mann, als befänden sie sich einer angriffslustigen Kobra gegenüber. Männer wie Stefan, bei dem die scheinbar ewig junge Seele vergessen macht, dass er in wenigen Monaten sechzig wird, haben so etwas nicht nötig. Und Paul erscheint mir wie eine jüngere Ausgabe von ihm.
Endlich gebe ich mir einen Ruck, ziehe den Autoschlüssel ab, greife nach meiner Handtasche und steige aus. Shira stürmt ungeduldig von der Rückbank und stößt mich durch ihre Hektik fast um. Auf dem kleinen Weg, der um das Haus nach hinten in den Garten führt, habe ich sie schnell aus den Augen verloren.
Da ich davon ausgehe, dass Lydia sich bei dem schönen Wetter heute auf jeden Fall draußen im Garten aufhalten wird, versuche ich gar nicht erst, an der Haustür zu klingeln. Ich vermute sie am Sitzplatz neben dem Teich, da auch Shira in diese Richtung verschwunden ist. So folge ich den leichten Windungen des holzgepflasterten Pfades, laufe über den Rasen auf die üppigen Rhododendren zu, lasse die links liegen und entdecke Lydia - damit beschäftigt, Shiras heftige Liebesbekundungen abzuwehren und die Zeitschrift, in der sie offenbar eben noch gelesen hat, in Sicherheit zu bringen. Sie erhebt sich sofort aus ihrem Liegestuhl und kommt mir mit der sie weiter umtänzelnden Shira entgegen.
"Mein Gott, wie siehst du denn aus? Bist du krank?"
Wange an Wange schnalzen wir unsere obligatorischen Küsschen in die Luft, haken uns gegenseitig unter und gehen gemeinsam hinüber unter den überdimensionalen, nesselbezogenen Sonnenschirm.
"Ich war gestern mit Iris auf der Piste", sage ich mit einem kleinen Seufzer und lasse mich in das Polster eines der Gartensessel fallen.
"Du?", fragt sie gedehnt. "Wie hat sie denn das geschafft?"
"Eine Aktion zur Thomas-Bewältigung. Aber ich glaube, das Problem ist noch immer nicht beseitigt. Sie scheint nun doch wieder mit ihm zusammen zu sein."
"O nein!", stöhnt Lydia und hebt abwehrend die Hände. Auch sie kennt die Geschichte aus hautnahem eigenem Erleben und mag darüber - ebenso wie ich - eigentlich nichts mehr hören. In ihrem Souterrain-Appartement hat Iris bei einem ihrer Fluchtversuche einmal Asyl gefunden - nur bis zur direkt auf dem Fuße folgenden Versöhnung mit Thomas, versteht sich, und Lydia hätte sich eher mit dem Teufel verbündet, als Iris noch einmal bei sich aufzunehmen. Das, was sich an Dramatik in ihrem Hause damals abgespielt hat, will sie auf gar keinen Fall noch einmal erleben. "Die Macht, die er immer wieder über sie hat, muss ihn doch fast größenwahnsinnig machen. Der ist ja um Längen schlimmer als dein Rolf es war."
Ich nicke. "Aber Rolf hat wenigstens nicht von meinem Geld gelebt, er verdiente selbst genug. Und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich nach der Ausbildung nicht arbeiten gehen müssen."
Lydia verdreht die Augen. "Für Rolf gehörten Frauen ja auch an den Herd - bestenfalls zum Repräsentieren an die Seite ihres Mannes."
"Das sieht Thomas im Grunde aber auch nicht anders", sage ich. "Iris darf zwar in die Schule, doch nur um das Geld heranzuschaffen. Danach muss sie dann den kompletten Haushalt erledigen, und er hängt den ganzen Tag zuhause, macht nur die Jobs, die ihm genehm sind, ansonsten legt er die Beine hoch und rastet aus, wenn der Staubsauger ihn beim Fernsehen stört."
"Tja", seufzt Lydia, "aber er weiß anscheinend, wo er bei ihr die richtigen Knöpfchen zu drücken hat, denn im Bett scheint es himmlisch zu klappen zwischen den beiden. Ab und zu wird er ja auch mal gut gelaunt sein, und Versöhnung steigert anscheinend die Leidenschaft. Vielleicht brauchen sie diese Tiefen, damit es auch solche Höhen gibt."
"Vielleicht", sage ich. "Jedenfalls ist es für mich ziemlich spät geworden, und nun habe ich ein Problem."
Ich erzähle ihr von der vergangenen Nacht und von Paul, während Shira wie immer erfolglos versucht, einen der Fische aus dem Teich zu schnappen oder aus der Uferbepflanzung vor ihr fliehende Frösche zu fangen. "Siebenundzwanzig ist er", wiederhole ich noch einmal, "sechzehn Jahre jünger als ich."
"Nun ja, das ist schon heftig", wiegt sie bedächtig ihren Kopf. "Aber wo liegt da das Problem? Die Kopfschmerzen bist du, dank der Hilfe der Pharmaindustrie, inzwischen los, oder? Und die Sache mit diesem Jungen dürfte doch auch nicht unlösbar sein. Falls du ihn wirklich nicht willst, meine ich. Du kennst doch dieses kleine, effektive Wörtchen NEIN, oder?" Dabei schmunzelt sie süffisant. "Würdest du ihn wollen, oder nicht?"
Hilflos hebe ich die Schultern. "Wie soll ich das wissen - nach einer einzigen Nacht, in der nicht einmal Entscheidendes passiert ist? Himmel, bin ich froh, dass ich mit ihm nicht auch noch im Bett gelandet bin. Will mir eigentlich keine weiteren Gedanken darüber machen. Vielleicht meldet er sich ja auch gar nicht mehr."
"Tja", hakt sie nach, "aber was machst du, falls er es doch tut?"
Ich greife nach Lydias Teeglas, nehme einen Schluck daraus und wische die Feuchtigkeit von meiner Oberlippe. "Der Anrufbeantworter bleibt erst mal eingeschaltet und E-Mails kann man löschen."
Doch Lydia scheint Gefallen daran gefunden zu haben, ein mögliches Szenario durchzuspielen. "Stell dir vor, er ruft tatsächlich an und gibt nicht auf, selbst wenn du ihn eine Weile auf dem Anrufbeantworter auflaufen lässt oder seine E-Mails löscht. Unter Umständen steht er sogar eines Tages vor deiner Tür. Könntest du ihn abweisen? Ich meine, du klangst gerade nicht so, als fändest du ihn absolut unsympathisch. Ich kenne dich doch, als du eben von ihm erzähltest, hattest du so etwas verdächtig Verträumtes im Gesicht."
Energisch schüttele ich den Kopf. "Das kann nicht sein."
"Komm schon", sie lacht und stößt gegen meinen Arm, "gib's zu, er hat dich beeindruckt, sonst hättest du anders geklungen, oder gar nicht erst von ihm erzählt. Ich kenne dich lange genug. In deinem Gesicht lese ich wie in einem offenen Buch."
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