Ich seufze. Wenn sie mich "Tante" nennt, muss es wirklich ernst sein. Mein vier Jahre älterer Bruder Darius kommt genau nach meinem Vater. Er kann einfach nicht akzeptieren, dass seine Tochter eigene Vorstellungen von ihrem Leben hat und will sie - jetzt nach dem Abitur - unbedingt in seine Fußstapfen, eine Bankausbildung zwingen. Dabei ist es ihr Herzenswunsch, sich in Essen an der Kunsthochschule zu bewerben und Schauspielerin zu werden. Ich finde, sie hat durchaus Talent, und in braven Klamotten hinter einem Bankschalter kann ich sie mir wirklich nur schwer vorstellen.
Sie in dieser Situation zurückweisen zu müssen, fällt mir nicht leicht. "Tut mir furchtbar Leid, Schatz, aber ich hab's schrecklich eilig, muss in zehn Minuten bei Iris sein und warte nur ab, bis Shira vom Pinkeln zurück ist. Komm doch morgen Abend."
"Morgen Abend kann ich nicht, da haben wir wieder eine Abschlussfeier."
"Nehmen die denn gar kein Ende?", frage ich lachend. Es ist mindestens die vierte nach dem Abitur. "Gut, dann komm, wann du willst. Ruf aber vorher an, ja?"
"Hm. Ja, mach ich." Sie klingt unzufrieden.
"Und lass dich von deinem Vater nicht verrückt machen, das kriegen wir schon hin." Ich lege auf.
Shira kehrt von ihrem Geschäft zurück und sieht zufrieden wedelnd zu mir hoch. Ich streichele über ihre graue Schnauze, schicke sie zurück in ihren Korb und erzähle ihr, dass ich bald wieder bei ihr bin.
*
Iris wartet schon am Straßenrand vor ihrem Haus und winkt mir entgegen. Offenbar hat sie bereits an der Beseitigung trüber Stimmungen gearbeitet, denn ihr Atem, der beim Begrüßungsküsschen unter meinen Nasenflügeln stehen bleibt, lässt mich ahnen, wie sie den frühen Abend bis jetzt verbracht hat.
"Beinahe hätte ich dich noch angerufen", sagt sie und grinst mir dabei etwas verkniffen ins Gesicht. "Eigentlich hätte ich gern umdisponiert, aber dann hab ich gedacht: verabredet ist verabredet."
Und dafür habe ich nun meine und Charlottes Bedürfnisse ignoriert!
"Ich wäre dir sicher nicht böse gewesen, wenn du angerufen hättest, mache das alles doch nur deinetwegen. Was ist denn passiert?" Ärgerlich richte ich meine Aufmerksamkeit auf das Einfädeln in den Verkehr.
Sie kichert etwas übertrieben. "Nun ja, ich war schon auf dem Stadtfest, fast den ganzen Nachmittag lang. Eigentlich bin ich ziemlich müde - und ganz schön beschwipst." Dann etwas leiser und nicht mehr so aufgesetzt heiter: "Hab Thomas getroffen. Wir konnten uns wieder ganz nett unterhalten, und er wollte unbedingt, dass ich bei ihm bleibe, aber ich hab ihm gesagt, ich muss weg, bin mit Carla verabredet."
"Thomas?" Mir verschlägt es fast die Sprache! "Ich nahm an, wir machen das hier, um dich vom Trennungsschmerz abzulenken." Ich streife sie mit einem mürrischen Blick. "Dafür quäle ich mich nun hier raus, obwohl ich eigentlich überhaupt keine Lust habe. Das musstest du doch wissen!" Und ich frage noch einmal nach, da ich es nicht fassen kann: "Thomas? Gut unterhalten? Wie kannst du dich mit dem Typen plötzlich wieder gut unterhalten können? Worüber denn? Ich denke, mit ihm kann man nicht reden. Hast du ihn dir schon wieder schön getrunken?" Fassungslos schüttele ich den Kopf.
In der für sie typischen, pathetischen Geste verwirft sie die Hände. "Was soll ich denn tun? Ich schaff das einfach nicht, der kriegt mich immer wieder rum. Ich komm da irgendwie nicht raus."
"Ich glaube, du willst da gar nicht raus, du scheinst das Problem zu brauchen. Vermutlich ist dir das Leben sonst zu langweilig."
Selbst wenn ich wollte, ich könnte den Biss in meiner Stimme in diesem Moment nicht unterdrücken.
Doch sie schüttelt nur ihren frisch dauergewellten Kopf und umklammert ihre kleine, schwarze Handtasche, als sei sie ihr Thomas, den ihr nichts und niemand entreißen darf. Am liebsten würde ich auf dem Absatz kehrt machen und wieder nach Hause fahren! Wie hoch erfreut hat mich doch die gerade eine Woche alte Mitteilung, dass der Berg endlich überwunden sei. Um mich während meiner Ferientage in Eckernförde zu erreichen ist ihr sogar Mariannes Telefonnummer wieder eingefallen. Doch nun scheint sie an den spiegelglatten Wänden dieses Bergs erneut abgerutscht und wieder am Fuße angelangt zu sein. So viel masochistische Bereitschaft kann ich einfach nicht nachvollziehen.
Nach einigem Herumsuchen finden wir endlich einen Parkplatz und setzen unseren Weg zu Fuß fort. Ich frage sie unterwegs, wie lange sie gedächte, dieses Theater weiter mitzumachen und auch ihre Freunde damit an den Rand der Verzweiflung zu bringen. Doch sie hebt nur immer wieder überfordert die Schultern, sucht nach weiteren Rechtfertigungen für einen neuen Versuch, scheint davon überzeugt, ihren Thomas eines Tages doch noch ändern zu können. Diesen unangenehmen Faulpelz wird jedoch nichts und niemand ändern können, er wird ihr auch weiterhin auf der Tasche liegen, ihr Sparbuch für seine Spielsucht plündern und sie mit seinem Psychoterror quälen, da gehe ich jede Wette ein.
Nachdem wir uns lange genug durch das überfüllte Jahrmarkts-Flair gedrängt haben, verlangen meine Füße nach einer Verschnaufpause. Wir stürzen uns auf zwei Sitzgelegenheiten, die in einem Straßencafé gerade frei geworden sind, schlagen dabei einige der Mitbewerber aus dem Feld und lassen uns - auf diese Weise vom Thema abgelenkt - mit dem Gefühl der Sieger darauf nieder. Ich genieße es, mir die Menschenmassen nun aus der Distanz anschauen zu können und empfinde beinahe so etwas wie Schadenfreude darüber, dass wir es geschafft haben, für eine Weile dieser Drängelei zu entkommen.
Nun interessieren Iris sogar meine Ferientage bei Marianne, und ich erzähle davon, dass Marianne, obwohl das Immobiliengeschäft in diesen Zeiten etwas träger läuft als vor ein paar Jahren noch, keinen Moment bereue, den Schuldienst quittiert und ihr eigener Herr geworden zu sein. "Sie hat trotz der allgemeinen Flaute immer noch genug zu tun, und sie ist dabei, sich ein zweites Standbein zu schaffen. Du kennst ja ihre Vorlieben ..."
"Sag bloß, sie macht jetzt in Kunst am Bau - oder so etwas", unterbricht Iris mich.
"Ungefähr diese Richtung", lache ich, "ja, sie hat ein altes Fabrikgebäude gekauft. Ein Kulturbunker soll das werden - mit Galerie, Bühne und Internetcafé. Dort lässt sie junge Künstler ausstellen, veranstaltet Lesungen und betreut eine kleine Theatergruppe. Du weißt ja wie sie ist, bei ihr muss ständig etwas los sein. Sie lebt wie eine Kerze, die an beiden Enden brennt. Ein illustres Völkchen springt dort um sie herum."
"Kann ich mir bestens vorstellen", seufzt Iris. "Ich war selbst ja auch schon dort - nachdem ich sie aus der Distanz plötzlich wieder leiden konnte." Sie lacht kurz und hart auf. "Gott, war ich froh, dass sie damals weggegangen ist. Sonst hätte ich bei uns sicher nie die Theater-AG und den Schlüssel zum Kunstsaal bekommen. Ich war ja auch erst fünf Jahre bei euch an der Schule. Das Küken und immer noch die Neue. Fast musste man meinen, sie hätte ein Erbrecht darauf gehabt. Nicht ungeschickt, dem Böck ständig um den Bart zu schmeicheln, damit er den Plan nach ihren Wünschen gestaltet und ihr die wenigsten Springstunden und Frühaufsichten gibt. Du weißt, dass ich deshalb oft sauer auf sie war."
Ich muss auch lachen. "Ja, Menschen um den Finger wickeln, das kann sie nach wie vor gut, und mir hat das auch nicht immer geschmeckt, aber ..."
"Ach komm", fällt Iris mir ins Wort, "du, Lydia und Marianne - ihr wart doch wie eine verschworene Einheit. Die drei Super-Fachfrauen für Deutsch, Biologie, Geschichte und Kunst. Damals habt ihr doch alle drei dem Böck ins Ohr geflüstert wie ihr es gerne hättet. Und so ist das mit Lydia und dir manchmal heute noch."
Ich reagiere etwas säuerlich. "Wir flüstern dem gar nichts ins Ohr. Vielleicht haben wir nur deshalb weniger Eckstunden, weil wir seltener krank feiern als du. Eine sechste Stunde kann man eben eher mal ausfallen lassen, als eine dritte. Wir machen genug Vertretungsstunden für dich, du solltest nicht ungerecht sein."
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