"Carla", antworte ich - fast wie unter Zwang. "Und du?"
"Ich bin der Paul."
Und nach den üblichen Fragen, ob ich auch "von hier" und öfter in dieser Kneipe sei, (was ich verneine), frage ich ihn spontan - eine dumme Angewohnheit von mir - nach seinem Sternzeichen.
"Waage", sagt er, "sechster Oktober."
"Ich bin vom zehnten", sage ich.
"Ach, auch Oktober?"
Ich nicke und lächle zurück.
Er fragt mich, ob ich - da ich nach so etwas gefragt habe - von Horoskopen etwas halte, das täten doch die meisten Frauen.
"Nicht von den Vierzeilern in den Zeitschriften", erkläre ich, "die mir erzählen wollen, dass ich in der kommenden Woche unglaubliches Glück in der Liebe und im Beruf fantastische Aufstiegschancen haben werde, aber ich glaube schon, dass die Stellung der Planeten zum Zeitpunkt der Geburt einen gewissen Einfluss auf das Temperament oder den Charakter eines Menschen hat."
Er nickt zustimmend, und wieder lächeln wir uns an. "Ja, das könnte ich mir ebenfalls vorstellen, auch wenn mir schleierhaft ist, wie das funktionieren soll. Vermutlich gibt es aber Dinge zwischen Himmel und Erde, für die wir Menschen einfach noch zu blöde sind."
Wie man eben so redet, wenn man sich gerade erst kennengelernt hat, unterhalten wir uns übers Wetter – und nun, da der August ausklingt und der September beginnt, spekulieren wir, ob es ein harter oder milder Winter werden wird, und sprechen - jetzt vor den Wahlen im Land, die laut Umfragen ein Lager an die Macht bringen könnten, das wir offenbar beide nicht sehr schätzen - auch den drohenden Klimawandel, die immer weiter steigenden Energiepreise an, halten beide Atomkraftwerke für viel zu gefährlich. „Die Eiszeit ist gerade mal etwa 10.000 Jahre her, dieser Jesus von Nazareth wurde vor 2000 Jahren gekreuzigt. Kommt uns das nicht irre lange vor?“, fragt er mich. „Ja und dieser atomare Abfall strahlt lustig zigtausende von Jahren lustig vor sich hin, Wahnsinn! Über solche zeitlichen Dimensionen kann sich doch heute niemand anmaßen, einfach mal locker über die Köpfe vieler kommender Generationen hinweg zu entscheiden, oder?“ Außerdem finden wir beide, dass die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft in letzter Zeit auf ein unerträgliches Maß gewachsen sind. Ja, wir sind uns, was die wichtigsten Bereiche des Lebens angeht, einig.
Plötzlich haben wir Getränke nachbestellt, und alles um mich herum erscheint mir wie hinter einem Weichfilter, ohne feste Konturen und völlig nebensächlich - wie der laufende Fernseher, den ich, wenn ich mich auf die Arbeit konzentriere, irgendwann nicht mehr beachte, aber auch nicht abschalte, weil mir die Hintergrundgeräusche das Gefühl vermitteln, nicht allein zu sein. Dass draußen vor der Tür eventuell ein paar Leute auf mich warten, habe ich inzwischen völlig vergessen.
Auf sein Nachfragen erzähle ich ihm, dass ich Lehrerin sei, dass mir das Fach Geschichte besonderen Spaß mache, dass ich als Kind zum Beispiel die Schliemann-Bücher verschlungen habe und gern Archäologin geworden wäre, dass aber auch Biologie eines meiner Lieblingsfächer sei.
"O je, Lehrerin", stöhnt er, "die wissen immer alles besser und laufen ständig mit erhobenem Zeigefinger herum."
Ich muss mir ein Alle-über-einen-Kamm-Scheren zwar entschieden verbitten, und das betone ich mit entsprechendem, etwas übertriebenem Nachdruck auch, doch das leise Zischen, das einige seiner Worte mit S-Laut durch die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen begleitet, finde ich niedlich, und während ich meinen Blick nicht von seinen Lippen wenden kann, als er mir ebenfalls seine frühen Träumen offenbart, warte ich amüsiert auf den nächsten S-Laut.
Bald weiß ich, dass er nach dem Abitur - ebenso wie ich ("ho, ho - männliche Lehrer halten ihren Zeigefinger wohl immer flach ...") - auf Lehramt studiert, nach der Referendariatszeit jedoch keine Stelle bekommen hat. Zur Überbrückung habe er eine Schreiner-Lehre gemacht, "eigentlich habe ich schon immer lieber mit den Händen gearbeitet, ganz praktisch also - hatte nie Lust, mich mit wissenschaftlichen Theorien herumzuschlagen", und dass er sich - nach ein paar Jahren als Geselle in einem kleinen Tischler-Betrieb mit seinen beiden Freunden Bernd, dem Elektriker, und Magnus, dem Maler und Computerfreak, mit einer Art Recycling-Firma selbstständig gemacht hat. "Unglaublich, was Menschen manchmal wegwerfen. Wir möbeln alles wieder auf, was irgendwie noch zu retten ist. Dann verkaufen wir es wieder zu erschwinglichen Preisen."
Mir fällt auf, dass er sich beim Reden in einer immer wiederkehrenden Geste die Haare aus dem Gesicht streicht. Das macht mich ein wenig nervös, und ich verspüre ab und zu den Drang, ihm die Hand einfach festzuhalten, damit ihm auffällt, wie automatisch und sicher unbewusst er das macht.
Schließlich erfahre ich, dass sein Vater im Gegensatz zu meinem eher ein sympathisches "Weichei" ist, einer, der zuhause nicht viel zu sagen hat, dem der Bergbau, wie Paul es ausdrückt, "vor zwei Jahren den Steiger-Job wegrationalisiert" habe, und der nun - wie viele andere Menschen leider auch - ohne Arbeit und Hartz-IV-Empfänger sei. Die Familie werde durch die Mutter, die zum Glück wenigstens einen Job als Arbeiterin am Band einer Kunststoff-Fabrik gefunden habe, eher schlecht als recht über Wasser gehalten, das decke neben dem lächerlich wenigen Geld, das der Vater nach über 30 Jahren schwerer Arbeit vom Staat erhalte, nur das Existenzminimum, und sich derart einzuschränken falle seiner Mutter, gewöhnt an einen anderen Standard, doch sehr schwer. Vielleicht gehe es ihr in letzter Zeit auch gesundheitlich deshalb nicht sehr gut.
Ich nehme Letzteres mit Bedauern zu Kenntnis und gebe zu, dass so etwas wie Arbeitslosigkeit meinem Vater als Beamtem glücklicher Weise nie habe passieren können, und dass das nach seinem Tod auch ein Segen für meine Mutter sei, denn sie könne von ihrer Witwenpension recht gut leben. Kurz bevor wir aufbrechen erzähle ich ihm auch noch von Shira, und das bringt ihn auf seinen eigenen Hund, den er sehr geliebt hat. Leider sei der auf dem Wirtschaftsweg vor dem Hof, den er mit seinen Freunden gepachtet habe, unter ein Auto gekommen und an den Verletzungen gestorben, worüber er seinerzeit maßlos traurig gewesen sei, was er auch bis heute noch immer nicht ganz verwunden habe. Das kann ich ihm sehr gut nachfühlen, ist doch auch für mich ein Leben ohne Shira kaum vorstellbar.
Dieser Paul kommt mir nach allen Dingen, über die wir in relativ kurzer Zeit bereits geredet haben, schon sehr vertraut vor, und sein niedergeschlagener Gesichtsausdruck bringt mich nun fast dazu, ihn tröstend zu umarmen. Doch ich reiße mich zusammen.
Fraglos ist nach zwei oder drei Stunden an einen Abbruch des Abends nicht zu denken. Obwohl wir uns bis dahin - außer spontanen, flüchtigen Berührungen unserer Hände - kaum angefasst haben, fühle ich mich zu ihm hingezogen. Er ist mir sympathisch. Ich finde ihn angenehm unaufdringlich. Mit ihm zu reden macht mir Spaß, und er gefällt mir auch äußerlich recht gut: hoch und gut gewachsen, ein hübsches Jungengesicht mit klaren Augen und offenem Blick - so man beides wegen der immer wieder zurückfallenden blonden Haarsträhne überhaupt zu sehen bekommt. Er hat es tatsächlich geschafft, meine Laune erheblich aufzuhellen.
Ohne mich zu zieren willige ich ein, als er mir anbietet, mich nach Hause zu begleiten. Er schlägt vor, auf ein Taxi zu verzichten. "Nach der verqualmten Höhle kann frische Luft nicht schaden, was meinst du?" Auch ich halte das für eine gute Idee.
Draußen hat nun doch leichter Nieselregen eingesetzt. Die Stühle der Straßencafés sind vom Personal schräg gegen die Tische gelehnt worden, damit das Wasser besser abperlen kann. Die Jahrmarktstände haben sich hinter heruntergelassenen Planen zurückgezogen, und unsere Schritte auf dem feuchten Kopfsteinpflaster hallen ungefiltert von den Häuserwänden zurück.
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